Sterne über Tauranga - Laureen, A: Sterne über Tauranga
nachdem er den Umschlag geöffnet hatte?
»Ich war zufällig dort, es ist ein Wunder, dass wir uns nicht über den Weg gelaufen sind«, fügte er grimmig hinzu, als könne er Gedanken lesen. »Du hast deine Bewerbung bei Professor Gerhardt abgegeben. Er hat mich darüber informiert, als wir im Gang aufeinandergetroffen sind.«
Ricarda erwartete, dass ihre Mutter nun wieder etwas fallenlassen würde, doch auf ihrer Seite des Tisches blieb alles ruhig. In diesem Augenblick wusste Ricarda selbst nicht, was sie sagen sollte.
»Du wirst sie zurückziehen«, fügte Heinrich Bensdorf bestimmt hinzu, ohne eine Erwiderung abzuwarten.
Doch wenn er geglaubt hatte, dass sein stechender Blick Ricarda einschüchtern würde, hatte er sich getäuscht. Er erreichte damit genau das Gegenteil. In Ricardas Brust schien sich eine Faust zusammenzuballen. Es wunderte sie selbst, dass sie in ruhigem Ton antworten konnte: »Das werde ich nicht tun, Vater. Ich habe es dir und Mutter bereits gesagt, ich will nicht, dass die Zeit in Zürich umsonst war. Keine Sorge, ich werde heiraten, aber wann und wen, das bestimme ich selbst. Die Zeiten, in denen Töchter wie Zuchtpferde gehandelt werden, sollten doch eigentlich vorbei sein.«
Jetzt war es an ihrem Vater, sprachlos zu sein. Er starrte Ricarda mit einer Fassungslosigkeit an, die sie noch nie zuvor an ihm gesehen hatte. Langsam stieg Heinrich Bensdorf die Röte über den Stehkragen und breitete sich in seinem Gesicht aus. Er starrte seine Tochter noch immer reglos an, und sie erwiderte den Blick furchtlos. Innerlich zitterte sie zwar, aber das ließ sie sich nicht anmerken.
»Wenn das so ist, dann entschuldigt mich bitte«, sagte er und erhob sich. »Ich habe noch einiges zu tun.« Damit warf er die Serviette neben den Teller und verließ den Raum.
Ricarda sah ihm noch einen Moment lang nach, bevor sie sich ihrer Mutter zuwandte. Susanne aß einfach weiter, als habe es den Disput nicht gegeben. Ricarda wollte ihren Augen nicht trauen. Hatte sie gegen die Wand gesprochen? Hatte ihre Mutter nicht einmal ein begütigendes Wort für sie übrig?
Enttäuscht erhob sie sich, legte die Serviette geräuschlos ab und ging hinaus.
5
Die Wochen vergingen, ohne dass sie von der Charite hörte. Heinrich Bensdorf ließ seine Frau beinahe täglich wissen, dass er am Abend sehr spät erscheinen werde und sie nicht mit dem Essen auf ihn zu warten bräuchten. Damit entzog er sich seiner Tochter, als fürchte er, sie könne ihn doch noch erweichen.
Ricarda vergrub sich ebenfalls in die Arbeit; sie studierte medizinische Bücher und Zeitschriften. Doch meistens schweiften ihre Gedanken ab und kreisten um den einzigen festen Punkt in ihrem Leben - die begehrte Assistenzstelle.
So auch an diesem Morgen kurz vor Weihnachten. Über Nacht hatten sich an ihrer Fensterscheibe Eisblumen gebildet.
Verträumt betrachtete sie die zarten Muster, die bereits mit einem Atemhauch vergingen. Mit dem Finger rieb sie ein Loch in das Gebilde und blickte nach unten. Ihr Vater stieg gerade in die Kutsche. Vielleicht wollte er Dr. Koch einen Besuch abstatten.
Ein Klopfen beendete ihre Vermutungen.
»Herein!«, rief sie und zog den Morgenmantel vor der Brust zusammen.
Es war Rosa, die in der Tür erschien. Sie knickste. »Die gnädige Frau möchte Sie etwas wissen lassen.«
Ricarda zog die Augenbrauen hoch. So weit war es also schon mit der Entfremdung. Ihre Mutter bemühte sich nicht einmal selbst, wenn sie ihrer Tochter etwas zu sagen hatte.
»Was denn?«, fragte Ricarda in abweisendem Ton, was ihr sofort leidtat. Das Dienstmädchen konnte schließlich nichts dafür.
»Sie lässt Ihnen ausrichten, dass die Herrschaften zum Weihnachtsball der Charite geladen sind und dass man Ihre Teilnahme erwartet.«
Ricarda lächelte schief. Zum Weihnachtsball einladen konnten sie ihre Tochter, aber ansonsten kümmerten sie sich nicht um sie.
»Sagen Sie der gnädigen Frau, dass ich darüber nachdenken werde«, entgegnete sie kühl, denn sie hatte keine Lust, sich auf dem Ball wie ein exotisches Tier begaffen zu lassen.
»Sehr wohl, gnädiges Fräulein.« Rosa knickste erneut.
Ricarda schloss aus Rosas Miene, dass das nicht die Antwort war, die ihre Mutter erwartete. Susanne würde dafür sorgen, dass das Dienstmädchen für diese Nachricht büßen musste, sei es durch unnötige Aufträge oder barsche Bemerkungen. Das war zwar ungerecht, aber dennoch wollte Ricarda nicht freudig zustimmen.
Als die Tür ins Schloss fiel,
Weitere Kostenlose Bücher