Sterne über Tauranga - Laureen, A: Sterne über Tauranga
schwach beleuchtet war. Sie suchte Halt an dem Handlauf an der Wand, während sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte. Hinter den Kabinentüren konnte sie leise Stimmen vernehmen. Wahrscheinlich beten alle um ihr Seelenheil, dachte sie.
Ricarda erreichte schließlich die Tür, hinter der sie das Weinen vermutete. Das Schild mit der Nummer 9 hing schief - möglicherweise war es schon beim Ablegen nicht mehr richtig befestigt gewesen und der Sturm hatte das Übrige besorgt.
Das Weinen war inzwischen in ein Schluchzen übergegangen. Ricarda bezweifelte, dass das ein gutes Zeichen war. Als sie die Kabinentür vorsichtig öffnete, wohl wissend, dass ihr Eindringen die Bewohner überraschen würde, sah sie eine Frau, die sich über einen Mann beugte. Leichenblass und mit starrem Blick lag er da. Ricarda ahnte, was das zu bedeuten hatte, doch sie kam nicht mehr dazu, etwas zu unternehmen - denn plötzlich bäumte sich das Schiff so heftig auf, dass sie den Halt verlor und zurück in den Gang geschleudert wurde. Ihr Kopf prallte gegen eine Wand, Sterne flimmerten vor ihren Augen. Sie wollte sich aufrichten, aber ein Schwindel erfasste sie, bevor alles in Dunkelheit und Stille versank.
Teil eins
Rückkehr nach Berlin
1
Die Dampflokomotive stieß ein lang gezogenes Pfeifen aus, als sie sich mit ihrer Waggonlast dem Lehrter Bahnhof näherte. Zuvor war der Zug an rußgeschwärzten Häusern vorbeigefahren, an Arbeiterunterkünften mit notdürftig geflickten Fenstern, an Wäscheleinen, auf denen vergraute Wäsche zum Trocknen aufgehängt war.
Berlin hat sich nicht verändert, dachte Ricarda.
Sie stand am Fenster ihres Abteils, und mit den vorbeifliegenden Eindrücken kehrten die Erinnerungen zurück. Erinnerungen an ein Mädchen mit langen blonden Zöpfen und gestärkter weißer Schürze, das nur zu gern in die Arbeiterviertel von Berlin lief, um dort mit den Kindern zu spielen, obwohl es doch ins feine Charlottenburg gehörte. Erinnerungen an eine junge Frau, die hart darum gekämpft hatte, ihren Traum zu verwirklichen, und nun ihr Ziel erreicht hatte. Diesmal würde sie für immer nach Berlin zurückkehren und das gewünschte Leben führen.
Die bis fast zum Bersten vollgepackte, rot geblümte Teppichstofftasche stand neben ihr auf dem Sitz. Einer der mitreisenden Herren hatte darauf bestanden, ihr das schwere Gepäckstück von der Ablage zu holen, obwohl sie es auch allein geschafft hätte. Sie war vielleicht von zierlicher Gestalt, dennoch besaß sie eine Körperkraft, die schon so manchen ins Staunen versetzt hatte.
Wahrscheinlich werde ich mich jetzt wieder daran gewöhnen müssen, dass die Männer versuchen, mir alles abzunehmen - die Taschen, die Arbeit, das Denken.
Nicht, dass es in der Schweiz anders gewesen wäre. Sie erinnerte sich noch gut an die verstörten Blicke, die sie geerntet hatte, sobald sie über ihr Medizinstudium sprach. Auch ihre Kommilitonen hatten sie zunächst wie einen Paradiesvogel behandelt.
In der Schweiz war es Frauen zwar seit einigen Jahren erlaubt zu studieren, aber nur wenige Einheimische, sondern vorwiegend Ausländerinnen nutzten diese Möglichkeit. Medizinstudentinnen waren allerdings eher selten anzutreffen, Ricarda war in ihrem Jahrgang die einzige gewesen. Ihr großes Vorbild war Marie Heim-Vögtlin, die als erste Schweizerin das Medizinstudium abgeschlossen hatte, promoviert wurde und nun eine gut gehende Praxis in Zürich führte.
Schon als Kind hatte Ricarda davon geträumt, Ärztin zu werden. Als Siebenjährige hatte sie die Arzttasche ihres Vaters untersucht und die merkwürdigen Instrumente darin bewundert. Danach hatte sie ihrem Vater mit kindlichem Ernst erklärt, dass sie einmal das Gleiche machen wolle wie er.
Heinrich Bensdorf hatte gelacht, seine Kleine auf den Arm gehoben und ihr einen Kuss auf die Wange gedrückt. »Das ist nichts für Mädchen, schon gar nicht für meine kleine Prinzessin«, waren seine Worte gewesen.
Doch die Faszination war geblieben, und Ricarda, die an jenem Abend mit glühenden Wangen im Bett gelegen und wegen ihres Vorsatzes sogar die geliebten Kekse zur Nacht vergessen hatte, war mehr und mehr überzeugt davon, dass sie Ärztin werden würde. Ein Leben als Prinzessin war ihr noch nie wünschenswert erschienen - nicht einmal, als sie Zeuge eines Defilees des Kaiserpaares und seiner Kinder wurde. Sie wollte Ärztin werden, wollte mitten im Leben stehen und kranke Menschen heilen.
Heinrich Bensdorf und seine Frau
Weitere Kostenlose Bücher