Sterne über Tauranga - Laureen, A: Sterne über Tauranga
hofften, dass sich dieser Wunsch verlieren werde. Aber das tat er nicht, im Gegenteil: Ricarda begann sich nachts in die Praxis, die zum Wohnhaus gehörte, zu schleichen und die medizinischen Bücher ihres Vaters zu studieren. Einmal erwischte er sie dabei. Anstatt sie zu schelten, hatte er nur die Stirn gerunzelt und das Buch aufgehoben, das ihr beim schreckhaften Aufspringen vom Schoß geglitten war.
»Du meinst es also ernst?«
Ricarda hatte genickt.
»Und wie viele von den Büchern hast du schon gelesen?«
»Zehn. Vielleicht auch mehr.«
Der Vater hatte sie nachdenklich angesehen. »Und hast du auch verstanden, was dort geschrieben steht?«
»Nein, leider nicht alles, Vater.«
»Nun, ich denke, wenn du älter wirst, wirst du es schon verstehen.«
Insgesamt war ihr Vater der sanftere Elternteil. Ihre Mutter, geplagt von Migräneanfällen und anderen Unpässlichkeiten, hatte ihr nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Ricardas Entschluss, der mit den Jahren immer stärker und fester geworden war, hatte sie stets lautstark missbilligt. Letztlich war es auch ihr Vater gewesen, der sich entgegen seiner inneren Überzeugung hatte erweichen lassen und einem Studium der Medizin zugestimmt hatte. Es war ihm unmöglich, seinem einzigen Kind den Lebenstraum zu verwehren.
Die Bilder der Erinnerung wurden fortgewischt, als der Zug in den Bahnhof einfuhr. Rauch hüllte die Gleise ein und umschloss die Wartenden einen Moment lang wie Nebel. Ricarda versuchte zu erkennen, ob jemand von ihrer Familie auf dem Perron war, um sie abzuholen, doch sie entdeckte kein bekanntes Gesicht. Sie hatte ihren Eltern ihre Ankunftszeit telegrafiert, rechnete aber eigentlich nicht damit, dass sie auf dem Bahnsteig erwartet würde.
Als der Zug vollständig zum Stehen gekommen war, griff Ricarda ihre Tasche und verließ das Abteil. Im Gang hatte sich eine Schlange gebildet. Eine Gruppe Studenten unterhielt sich lautstark, während sich hinter ihr weitere Reisende aufreihten. Es dauerte nicht lange, bis sich einige davon über das Verhalten der Studenten empörten. Ein Lächeln huschte über Ricardas Gesicht. Als sie nach Zürich gereist war, hatte sie solch ein Verhalten auch empörend gefunden, aber mit der Zeit hatte sie sich daran gewöhnt. Jetzt amüsierte sie sich darüber, denn sie kannte den Grund für ihre Ausgelassenheit. Wenn ich keine Frau wäre, würde ich mich ihnen wohl anschließen, in ein Lokal einkehren und das Ende des Semesters feiern. Doch so etwas ziemte sich nicht für eine Frau, nicht einmal in dem Land, in dem sie studieren durfte. Und erst recht nicht in Preußen.
Als Ricarda ausstieg, erfasste Zugluft ihre Röcke, ein eisiger Hauch strich über ihre Wangen. Ein paar Haarsträhnen lösten sich aus ihrer Frisur und umwehten ihren Kopf wie federleichte Bänder.
Zu Hause. Endlich!
Das Wetter in Zürich unterschied sich nur unwesentlich von dem in Deutschland, dennoch war die Luft in Berlin anders. Sie roch anders. Spree und Havel verliehen ihr etwas Sumpfiges. Und obwohl die Fabrikschlote die Stadt in Rauch hüllten, wehte auch ein Hauch frischer Landluft von den märkischen Feldern herbei, die die Metropole umgaben. All das bildete den Geruch ihrer Kindheit, den Ricarda unter tausenden erkennen würde.
Sie strich das blaugraue Reisekostüm glatt, das aus einem schlicht geschnittenen Rock und einer kurzen Jacke mit gebauschten Ärmeln bestand, zog den Schal ein wenig fester und richtete ihren Mantel. Hinter ihr ertönte ein schrilles Pfeifsignal, das die Reisenden aufforderte, die Türen hinter sich zu schließen. Wenig später setzte sich die Lok schnaubend und ächzend in Bewegung, aber Ricarda achtete nicht mehr darauf. Sie trat aus dem Portal und ließ den Blick über den Bahnhofsvorplatz schweifen.
»Fräulein Ricarda!«, rief plötzlich eine Stimme hinter ihr.
Als sie herumwirbelte, entdeckte sie den Kutscher Johann, der schon vor ihrer Geburt in den Diensten der Familie Bensdorf gestanden hatte. Er strahlte. Sein Haar war seit ihrem letzten Zusammentreffen noch weißer geworden, aber seine Augen waren noch immer die eines jungen Mannes.
»Guten Tag, Johann, wie geht es Ihnen?«, rief Ricarda und umarmte den Kutscher. Seinem Mantel entströmte der vertraute Duft nach Pferd und dem Rasierwasser, mit dem er nicht nur sein Kinn behandelte, sondern auch sein prächtiges Haar zu glätten versuchte.
Ihre Mutter missbilligte engen Kontakt mit dem Personal, aber Johann war für Ricarda beinahe so etwas wie ein
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