Sterne über Tauranga - Laureen, A: Sterne über Tauranga
Großvater. Manchmal hatte er sie heimlich auf dem Kutschbock sitzen lassen, wenn ihre Eltern nicht da waren und sie es geschafft hatte, dem Kindermädchen für einen kurzen Augenblick zu entwischen. Er hatte ihr die Pferde gezeigt und einiges dazu erklärt. Manchmal hatte er ihr auch Geschichten aus dem Krieg erzählt, in dem er als junger Mann gedient hatte. Liebend gern hätte sie jetzt vorn bei ihm gesessen, aber sie hielt es für besser, den Platz einzunehmen, der kein Getuschel bei der feinen Berliner Gesellschaft hervorrufen würde. Sie hatte ohnehin schon oft Empörung geweckt, weil sie es gewagt hatte zu studieren.
»Ist das alles, was Sie an Gepäck haben?«, fragte der Kutscher und deutete auf ihre Tasche.
Ricarda nickte. »Ja, den Rest habe ich per Post aufgegeben, er wird wohl im Laufe der Woche eintreffen.«
»Oder gar nicht«, neckte Johann sie, während er ihr die Tasche abnahm und auf einen der Sitze hievte.
»Was sollte man einer armen Studentin schon stehlen?«, fragte sie und nahm auf den Lederpolstern Platz. Johann hatte das Verdeck zur Hälfte aufgeklappt, sodass sie sich bei der Fahrt die Stadt ansehen konnte.
»Ich denke, Sie sind jetzt eine richtige Ärztin, Fräulein Ricarda?«, bemerkte er und schwang sich auf den Kutschbock.
»Das stimmt.« Ein Lächeln schlich sich auf Ricardas Gesicht. Mehr denn je wurde ihr bewusst, welchen Schritt sie gewagt und bewältigt hatte. Sie hatte etwas geschafft, was den Frauen in Preußen in der Regel verwehrt blieb. Hier war ihnen sogar verboten, einen Hörsaal zu betreten. Die meisten jungen Mädchen taten das, was die Mütter für sie geplant hatten: heiraten, Kinder gebären und sich auf Bällen und in Salons zu Tode langweilen.
»Nun gut, Frau Doktor, ich nehme an, Sie wollen schnurstracks nach Hause.«
»Ja bitte, Johann«, antwortete sie, aber ihre Stimme klang nicht freudig. Sie wusste, was sie erwartete. Das Wiedersehen mit ihrem Vater würde mit Abstand das Beste an ihrer Heimkehr sein.
»Also gut, dann los!« Johann ließ die Peitsche über den Köpfen der Pferde knallen, und der Landauer fuhr an.
2
Ein Jahr war es her, seit Ricarda ihr Elternhaus das letzte Mal gesehen hatte. Die wunderschöne Villa in Charlottenburg glich einem Palast - als kleines Mädchen hatte Ricarda sie tatsächlich für ein Schloss gehalten. Das weiß getünchte, im klassizistischen Stil gehaltene Gebäude erstreckte sich über zwei Stockwerke; ein Flügel war sogar von einem Turm gekrönt. Weitläufige Blumenrabatten umgaben das Haus, das nach hinten hinaus einen Park besaß. In dessen Mitte befanden sich ein künstlich angelegter See und ein Pavillon. Dort hatte Ricarda früher oft gesessen und Pflanzen studiert und gezeichnet.
Im vergangenen Winter war sie hier gewesen, um sich ein paar Tage Ruhe zu gönnen. Sie hatte sich mit ihrem Vater über Fortschritte in der Medizin unterhalten, auf Bällen getanzt und Schlittenfahrten außerhalb von Berlin unternommen. Nie hatte sie sich so frei und lebendig gefühlt.
Äußerlich hatte sich nichts am Bensdorf'schen Anwesen geändert, und doch legte sich eine Last auf Ricardas Brust, als die Kutsche durch das Tor in dem hohen Eisenzaun fuhr. Es war, als hätte sie das Korsett zu fest geschnürt.
Sie brauchte Johann nicht zu fragen, wo ihre Mutter war. Da sie die Kutsche nicht in Anspruch genommen hatte, würde sie mit der Organisation des Haushalts, mit Vorbereitungen zur nächsten Wohltätigkeitsveranstaltung oder mit einer ihrer Gesellschaften beschäftigt sein.
Nachdem der Landauer gehalten hatte, stieg Ricarda aus.
Der Hausdiener Martin lief ihr entgegen, um sie zu begrüßen. »Die gnädige Frau schickt mich, ich soll Ihnen ausrichten, dass sie Sie im Salon erwartet.«
»Danke, Martin.« Ricarda unterband den Versuch des Dieners, die Tasche an sich zu nehmen, und ging forsch voran. Ihre Schritte hallten vom Marmorfußboden der Eingangshalle wider, der mächtige Kronleuchter über ihrem Kopf klimperte leise in dem Luftzug, der ihr und Martin folgte.
Die Bensdorfs waren eine Berliner Ärztedynastie. Im 17. Jahrhundert hatte sich hier der erste einer langen Reihe von Medizinern niedergelassen, und bis auf wenige Ausnahmen hatte die Familie immer wieder gute Vertreter dieses Standes hervorgebracht. Ricardas Vorfahren hatten schon in dem Lazarett gearbeitet, das auf Order von König Friedrich Wilhelm I. später Charite genannt wurde, und viele hervorragende Ärzte der Familie wirkten in diesem Spital an
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