Sternen Stroemers Lied - Unter dem Weltenbaum 02
niedergeschlagen habt. Zwei Gewaltverbrechen also. Mag das erste durch Eure Fahrlässigkeit geschehen sein, so habt Ihr doch das zweite mit voller Absicht begangen.« Sie zuckte die Achseln. »Die Awaren gestatten nur sehr selten jemandem, der sich so etwas gravierendes hat zu Schulden kommen lassen, in Awarinheim zu leben. Euer Volk hat mit seinen Beilen und Äxten einen Großteil des Waldes vernichtet. So wie es vorher schon die Ikarier und Awaren erschlagen hat. Und jetzt kommt Ihr daher, die Ihr Euren Vater auf dem Gewissen habt. Könnt Ihr verstehen, daß wir glauben, die Gewalttätigkeit sei den Achariten angeboren?«
»Pease, ich weiß doch nicht, wo ich sonst hingehen kann. Wenn Ihr mich ablehnt, wohin kann ich mich dann noch wenden? Niemand wartet auf mich oder wird mich aufnehmen.« Und das ist der Hauptgrund meines Leidens. Niemand außer ihrer Mutter hatte sie jemals geliebt. Und das konnte auch nicht übermäßig gewesen sein, sonst hätte sie sich wohl kaum dafür entschieden, ohne sie mit einem anderen Mann fortzugehen. Nach einem Leben voller Ablehnung und schlechter Behandlung sehnte sie sich danach, geliebt, gebraucht und geachtet zu werden.
»Ach, Aschure.« Ihre Mutlosigkeit ging Pease sehr nahe. »Wir danken Euch aus tiefster Seele dafür, so viel zur Rettung von Ramu und Schra gewagt zu haben. Aber wenn Ihr bei den Awaren aufgenommen werden und Euer Zelt bei unseren aufschlagen wollt, dann müßt Ihr darauf warten, von der gesamten Versammlung dazu aufgefordert und eingeladen zu werden.«
Die Menschenfrau nickte stumm.
In der Nacht kamen alle Klans der Awaren im Erdbaumhain zusammen. Die Ikarier würden erst in ein oder zwei Tagen zu ihnen stoßen, und so sollten an diesem Abend ausschließlich awarische Angelegenheiten besprochen werden. Hier im nördlichen Awarinheim fanden sich mehrere Haine, die von beiden Völkern zu unterschiedlichen religiösen Riten genutzt wurden. Der Erdbaumhain aber galt als der weihevollste und spielte folglich bei den Jultiden- und Beltidenfesten die bedeutendste Rolle.
Bei Einbruch der Dämmerung zogen die Awaren, nachdem sie in ihrem jeweiligen Lager eine leichte Mahlzeit zu sich genommen hatten, ehrfurchtsvoll in den Hain ein. Ihre Schritte waren auf dem weichen Untergrund von Gras und abgefallenen Nadeln kaum zu hören.
Alle Haine waren kreisförmig angelegt und öffneten sich dem Himmel. Die hohen Bäume von Awarinheim umschlossen sie dicht und hielten ihre Geheimnisse sicher vor allen neugierigen Blicken verborgen. Aschure kam mit dem Geistbaum-Klan und wagte nicht aufzuschauen. Ramu und Barsarbe gesellten sich jetzt wieder zu ihnen. Besonders die Zauberin starrte Aschure so kalt an, daß sie Scham und tiefe Reue fühlte. Goldfeder merkte schließlich, wie es um die Menschenfrau stand. Sie gesellte sich zu Aschure und ergriff ihre Hand.
»Ich war leider viel zu sehr mit meinen Erinnerungen und der Nachricht beschäftigt, daß mein Sohn noch lebt. Sonst hätte ich mich bestimmt mehr um Euch und Eure Seelenpein gekümmert, mein Kind. Fürchtet Euch nicht zu sehr vor der Versammlung. Für Euch spricht doch schon, daß der Geistbaum-Klan Euch gestattet hat, mit ihm den Hain zu betreten. Seid auch versichert, Aschure, daß ich zu Euch stehe. Und Ramu wird sich sicher vor dem Rat so stark für Euch verwenden, wie er es bereits vor der Sippe getan hat.«
Aschure drückte ihre Hand und lächelte ein wenig. »Vielen Dank, Goldfeder. Eure Unterstützung bedeutet mir sehr viel.«
Armes Mädchen, dachte Axis’ Mutter. Ich hätte mich mehr um sie kümmern müssen, weiß ich doch aus eigener Erfahrung, wie sie sich fühlt. Aber was könnte ich ihr schon sagen? Daß selbst ich, die Liebste des Sternenströmers, manchmal immer noch nicht weiß, wo ich eigentlich zu Hause bin? »Zuweilen glaube ich, Aschure, daß wir in dieser Welt, in der nur wenigen ein sicherer Hafen zu finden vergönnt ist, zu sehr davon träumen. Wenn die Awaren sich heute nacht gegen Euch entscheiden sollten, dann laßt Euch das nicht das Herz verhärten. Nicht nach all dem, was Ihr bereits durchgemacht habt. Und wer weiß, meine Liebe, die Ikarier schätzen Wagemut und Aufregung sehr. Viel mehr jedenfalls als die Waldläufer hier.« Sie lächelte. »Und Schönheit wissen sie ebenfalls zu würdigen.«
Aschure lächelte leicht und freute sich, daß Goldfeder sich bemühte, sie aufzuheitern. Wie konnte sie sich beklagen, wenn diese Frau doch so viel Schlimmeres durchgemacht hatte? »Dann werde
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