Sternen Stroemers Lied - Unter dem Weltenbaum 02
einen Finger oder Zeh verlor. Nur ihre Haare veränderten sich. Als stete Erinnerung an die durchgemachte Pein färbten sie sich silbern. Nur dort, wo Sternenströmer ihr eine Hand auf den Kopf gelegt hatte, blieben die Haare golden.
Doch Goldfeder fand selbst hier, im Krallenturm und an der Seite Sternenströmers, nicht zu Ruhe und Glück zurück. Die Ikarier mit ihrem unglaublichen Stolz, ihrem Hochmut und ihrer Besessenheit für Zauberei und Mysterien irritierten sie beständig. Goldfeder verlor zwar bald ihr Mißtrauen gegen diese Flugwesen und versuchte auch, nett zu ihnen zu sein, aber oft genug spürte sie nur ihr selbstgefälliges Mitleid. Und auch Sternenströmers Wunsch, eine Bodenläuferin zur Frau zu nehmen, löste bei den Ikariern mehr als nur eine hochgezogene Braue aus.
Die beiden mußten sich auch einer weiteren Schwierigkeit stellen. Zwar sprachen sie nie offen darüber, aber beiden bescherte diese bittere Wahrheit mit jedem vergehenden Jahr größeren Seelenschmerz. Die Ikarier erfreuten sich nämlich großer Langlebigkeit. Für sie war selbstverständlich, fünf- oder sechsmal so lange zu leben wie Menschen oder Awaren. Sternenströmer galt für die Seinen immer noch als junger Mann und würde durchaus noch einige Jahrhunderte vor sich haben, wenn seine Frau schon längst gestorben war. Das Wissen darum, daß sie vor seinen Augen altern und schließlich sterben würde, noch ehe er seine mittleren Jahre erreicht hätte, war beiden so furchtbar, daß sie nie ein Wort darüber verloren. Schon zeigten sich bei Goldfeder die ersten Fältchen, und sie konnte seine liebenden Blicke immer schwerer ertragen. Aus diesem Grund verbrachte sie auch zunehmend mehr Zeit fern vom Krallenturm und zog mit den Awaren umher; anders wußte sie nicht mit ihrer beider Verschiedenheit und dem sicher nicht beabsichtigten, aber unübersehbar vorhandenen Bedauern in seinem Blick fertigzuwerden. Wie schwer es doch für eine Menschenfrau war, dachte sie oft bei sich, einen Ikarier zu lieben. Eine solche Liebe konnte einfach keinen Bestand haben. Und schon beschlichen sie Zweifel darüber, ob er ihr noch lange treu und ergeben sein würde. Seufzend überlegte Goldfeder sich, was sie wohl tun sollte, wenn ihr das Mitleid in seinen schönen Augen eines Tages zuviel würde. Aber sie wußte keine Antwort darauf, und unglücklich verlegte sie ihr Denken immer mehr auf die gemeinsame Tochter.
Vier Jahre, nachdem Goldfeder zu Sternenströmer auf den Krallenturm gezogen war, hatte sie Abendlied zur Welt gebracht. Die Geburt erfüllte beide mit der größten Freude, und Abendlied entwickelte sich wirklich zu einem bildhübschen Mädchen. Ihre Stimme ähnelte sehr dem Zwitschern des Vogels, nach dem sie ihren Namen bekommen hatte. Die Tochter würde demnächst fünfundzwanzig, das Jahr, in dem Ikarier die Volljährigkeit erreichten. Bald würde sie in die Luftarmada eintreten und ihren obligatorischen fünfjährigen Wehrdienst ableisten. Die Sterne mochten ihr beistehen, sollte sie zu der Zeit, da die Prophezeiung sich erfüllen würde, immer noch bei den Streitkräften Dienst tun.
Abendlied hatte nur wenig von ihrer Mutter geerbt. Das ikarische Blut erwies sich als stärker als das menschliche. Ikarische Babies unterschieden sich kaum von denen der Ebenenbewohner. Erst im Alter von vier oder fünf Jahren entwickelten sich bei ihnen die ersten Flügelansätze. Mit sieben waren diese dann so ausgewachsen, daß die Kinder ihre ersten Flugversuche unternehmen konnten. Wegen ihres halb menschlichen Ursprungs dauerte dieser Prozeß bei Abendlied länger. Sternenströmer verbrachte deshalb manche Stunde mit ihr, sang ihr seine Lieder, streichelte ihr den Rücken und versuchte so, die ersten Schwingenknospen herauszulocken.
Ob ihr Sohn ebenfalls Flügel entwickelt hätte, wenn sein Vater genauso viel Zeit mit ihm verbracht hätte? Hatte er so wie seine Schwester die ikarische Langlebigkeit geerbt? Welche anderen ikarischen Eigenschaften mochten ihm im Blut liegen? Offenbar hatte der Axtherr die Weisen nicht vergessen, die Sternenströmer ihm vorgesungen hatte, als er noch im Mutterleib war. Denn schließlich hatte er ja Schra mit dem Genesungslied gerettet … Goldfeder atmete vernehmlich ein, als sie darüber nachdachte. Kein ikarischer Zauberer, nicht einmal Sternenströmer, der doch als der Mächtigste unter ihnen galt, verstand sich so gut auf die Kräfte dieses Liedes … Dabei hatte Axis doch überhaupt keine entsprechende Ausbildung
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