Sternen Stroemers Lied - Unter dem Weltenbaum 02
daß es sich bei dem Axtherrn um ihren Sohn handelte, konnte sie ohnehin kaum noch an etwas anderes denken. Rivkah. Goldfeder hatte geglaubt, dieses Leben für immer unter den eisigen Hängen der Eisdachalpen zurückgelassen zu haben. Während der vergangenen dreißig Jahre hatte sie sich kaum einmal gestattet, an die Zeit zurückzudenken, in der sie die Herzogin von Ichtar gewesen war. Nein, ihre alte Existenz hatte sie zusammen mit ihrem totgeborenen Sohn begraben. Seitdem hatte sie ein neues Leben als Goldfeder begonnen, neues Glück und neuen Sinn darin gefunden.
Aber nun mußte sie sich einfach wieder erinnern. Sie dachte zurück an den Tag, an dem der Sternenströmer auf dem Dach in Sigholt gelandet war. Rivkah hatte ihn sofort erkannt – ein ikarischer Zauberer. Obwohl sie wie alle anderen auch vom Seneschall dazu erzogen worden war, die Unaussprechlichen zu fürchten und zu hassen, hatten diese Wesen sie doch schon seit ihrer Mädchenzeit fasziniert. Ein Troubadour war damals in Karlon erschienen, ein gutaussehender Mann mit kupferfarbenem Haar, und viele Abende hatte er vor König Karel und seinem Hof aufgespielt. Aber er unterhielt auch die Jungfer und sang Lieder, die nur für ihre Ohren bestimmt waren. Geschichten über die verlorenen Ikarier und Awaren und ihr magisches Leben. Rivkah/Goldfeder konnte sich noch sehr gut an ihn erinnern. Ein ungewöhnlicher Mann, der selbst an wärmeren Tagen seinen dunklen Umhang nicht ablegte. Wie schön seine Lieder gewesen waren. Noch Jahre später, nachdem der Troubadour schon längst weitergezogen war, blieben sie weiterhin in ihrem Gedächtnis lebendig …
Deswegen hatte Rivkah sich nicht im geringsten gefürchtet, als der ikarische Zauberer eines Tages vor ihr auf dem Dach landete. Sie gab gerade ihrem Kind die Brust, sah zu ihm auf, schaute ihm in die Augen und war hingerissen von ihm. Noch am selben Tag hatte sie sein magisches Kind empfangen, und beide sehnten sich danach, es endlich in ihren Armen halten zu können.
Aber dann hatte Jayme sie getäuscht. Goldfeders Lippen preßten sich voll Zorn aufeinander, wenn sie daran dachte, wie der Mönch ihren Sohn gestohlen und ihr weisgemacht hatte, er sei tot. Der Blick ihrer grauen Augen verhärtete sich, als sie sich daran erinnerte, wie die beiden Hebammen mit ihrem immer noch atmenden Kind aus der Kammer gelaufen waren. Rivkah war damals überzeugt gewesen, in den Bergen sterben zu müssen. Aber von irgendwoher hatte sie genügend Stärke und Liebe erhalten, damit sie auch in diesem Land überleben konnte.
Zwei Stunden, nachdem Rotkamm neben ihr gelandet und sie mit der Ikariern eigenen tapferen Ironie gefragt hatte, ob sie tatsächlich beabsichtige, unter seinem Lieblingsschlafplatz zu sterben, hielt der Sternenströmer sie in den Armen. Tröstete sie, schenkte ihr seine Liebe, heilte sie und weinte mit ihr um den verlorenen Sohn. Danach trug er sie zum Krallenturm und kümmerte sich ganz allein um sie. Wochen sollten vergehen, bis Rivkah genesen war, und in dieser Zeit wich der Zauberer nicht von ihrer Seite. Er ließ nicht zu, daß sie sich dem Tod hingeben wollte, und duldete auch ihr Selbstmitleid nicht. »Wir haben noch so viel Zeit vor uns, um neue Söhne zu bekommen«, flüsterte er ihr immer wieder zu, und am Ende hatte Goldfeder sich von ihm überzeugen lassen.
Doch beide waren nie so recht über den Tod ihres Sohnes hinweggekommen, den sie im Glück einer neuen Liebe geschaffen hatten. Sternenströmer war so voller Freude gewesen, wie das Kind in ihrem Bauch heranwuchs. Stunden hatte er dagesessen und die Hand auf ihren Bauch gelegt und gespürt, wie sein Sohn in Rivkahs Leib heranreifte. Der Zauberer sang ihr seine Lieder vor, und an einem Tag während ihres sechsten Monats hob er plötzlich erstaunt den Kopf von ihrem Bauch: »Der Kleine singt zurück! Bei allem, was recht ist, Rivkah, Ihr habt ein Kind empfangen, das eines Tages ganz Tencendor mit seiner Stimme erwecken wird.« Die beiden hatten darüber fröhlich gelacht und waren auch sonst guter Dinge gewesen – bis Searlas zurückkehrte. Bevor Sternenströmer etwas unternehmen konnte, hatte der Herzog seine untreue Gemahlin bereits in die Zuflucht von Gorken schaffen lassen.
Goldfeder war im Krallenturm schließlich vollkommen gesund geworden, und alle äußeren Verletzungen hatten sich geschlossen. Den ikarischen Heilern war es sogar gelungen, den Blutkreislauf in den erfrorenen Gliedmaßen wieder in Gang zu bringen, so daß sie nicht
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