Sternen Stroemers Lied - Unter dem Weltenbaum 02
Sonnenflieger, der Krallenfürst, wartete bereits ungeduldig darauf, mit den Beratungen zu beginnen. Der gutaussehende Vogelmann besaß lebendige violette Augen und trug das dunkle Haar so lang wie sein Bruder. Die Unterseite seiner Flügel war aus leuchtendem Blau. Ikarier pflegten ihr Haupthaar und die Oberseite ihrer Schwingen nicht zu färben, hingegen aber sehr gern, und das je nach Laune, die Unterseite. Rabenhorst hatte eine passende blaue Hose an, und an beiden Oberarmen prangten zwei silberne Armreife, die auf seinen Rang hinwiesen. Der Fürst führte die Ikarier schon seit über fünfzig Jahren, unmittelbar nachdem sein und Sternenströmers Vaters Geschwindwolke gestorben war. Die letzten Tage hatten sich als die härtesten seiner gesamten Regierungszeit erwiesen.
Sobald sein Bruder und Goldfeder zwischen den hundertzwanzig versammelten Awaren und Ikariern einen Platz gefunden hatten, begann Rabenhorst mit seiner Ansprache. Beim Reden schritt er unter dem Erdbaum auf und ab. Unter dem Heiligtum selbst stand sein Sohn Freierfall Sonnenflieger, der vom Onkel die goldenen Haare und vom Vater die violetten Augen geerbt hatte.
»Meine Freunde und Nachbarn«, sagte der Fürst. »Die Luftarmada bringt beunruhigende Nachrichten mit. Unsere Fernaufklärer melden, daß große Scharen von Skrälingen und anderen, uns unbekannten Kreaturen im Süden des Rabenbund-Landes am Fluß Andakilsa zusammengezogen werden. Offensichtlich bereiten sie sich auf einen Angriff auf die Acharitenfestung am Gorkenpaß vor. Dies ist der Grund für unser spätes Erscheinen. Wir wollten den Norden Ichtars so lange wie möglich observieren. Zur Zeit fegt dort ein schlimmer Schneesturm. Zauberkräfte, die wir noch nicht kennen, scheinen ihn ausgelöst zu haben.«
Rabenhorst hob eine Hand, um das Geraune und Getuschel zum Schweigen zu bringen, das an einigen Stellen entstanden war. »Und das ist leider noch nicht alles. Nördlich der Heiligen Haine ballen sich ähnliche Sturmwolken zusammen, und die Skrälinge sammeln sich auch an den Grenzen von Awarinheim. Meine awarischen Vettern, ich fürchte, Awarinheim steht bald das gleiche Schicksal bevor wie Gorken!«
»Unmöglich! Die Skrälinge haben immer davor zurückgescheut, den Wald zu betreten. Sie können die Bäume nicht ertragen. Genauso wenig wie die Haine im Norden Awarinheims.«
»Gorgrael verleiht diesen Kreaturen seine Macht, Mirbolt«, wandte Ramu ein. Er hatte sich erhoben, damit alle seine Worte verstehen konnten. »Wer weiß, wozu sie jetzt in der Lage sind? Doch bevor Ihr fortfahrt, Rabenhorst Sonnenflieger, müßt Ihr unbedingt etwas erfahren: Die Zeit der Prophezeiung ist angebrochen, und ihre Wächter wandeln bereits über die Erde.«
Der Fürst schwankte, als habe er einen Schlag erhalten, und Entsetzen breitete sich auf seinen schönen Zügen aus. Die anwesenden Ikarier wirkten gleichermaßen beklommen. »Oh nein!« stöhnte Sternenströmer und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen.
Ramu berichtete dem Rat nun, was er von den Wächtern am Farnbruchsee erfahren und wie er die Baumfreundin gefunden hatte. Mit einem Seitenblick auf den Sternenströmer, der auf den Boden starrte, fuhr der Aware dann damit fort, wie er dem Axtherrn des Seneschalls begegnet war und um wen es sich bei ihm in Wahrheit handelte. Um einen unglaublich starken ikarischen Zauberer, der soviel Macht besitze, daß er das Lied der Genesung singen könne, als handele es sich um ein einfaches Volkslied. Danach legte Ramu eine Pause ein, um diese Nachrichten in die Herzen der Zuhörer einsinken zu lassen. Die ikarischen Zauberer und Ältesten murmelten aufgeregt miteinander. »Vielleicht sollte Sternenströmer jetzt eine Erklärung abgeben«, meinte Ramu dann.
Langsam hob der Angesprochene den Kopf und sah sich in der Runde um, bis sein Blick am Bruder hängenblieb. »Rabenhorst, der Axtherr ist mein Sohn, Goldfeders Kind, das ihr bei der Geburt der Mann gestohlen hat, der mittlerweile zum Bruderführer des Seneschalls aufgestiegen ist. Ich habe das selbst gerade erst erfahren.«
»Was geht hier vor?« rief der Fürst, dessen erste Überraschung sich in Ärger verwandelt hatte. »Wie kann ein ikarischer Zauberer von den Schurken des Seneschalls großgezogen werden?«
Ramu trat vor und hob beide Hände, um den Aufruhr in den Reihen zu beschwichtigen. »Noch eines muß ich vorbringen. Die Zeit der Prophezeiung ist gekommen, und Gorgrael sammelt seine Truppen zum Großangriff auf den Süden. Die
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