Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt
Elend an ihm vorbeigestrichen waren, hatte er es nicht für möglich gehalten, jemals diese grenzenlose Liebe erfahren zu dürfen.
Sie war so jung, so unverdorben. Und er? Er war ein Monster. An seinen Händen klebte das Blut unzähliger Menschen, auch unschuldiger, die wie Kornblumen dem Schnitter zum Opfer gefallen waren. Er hatte sie nicht verdient. Er brachte sie sogar in Gefahr, raubte ihr das Leben, das ihr zustand, nur weil er nicht wusste, wie er ohne sie existieren sollte.
Er lachte bitter, woraufhin sie ihn verwundert ansah. »Ich musste nur an etwas denken«, beschwichtigte er sie.
Sie schenkte ihm ein Lächeln, hauchte einen Kuss auf sein Kinn und schmiegte sich an seine Brust.
Schwach. Das war er schon immer gewesen. Schwach und selbstsüchtig.
Er küsste sie auf ihren Scheitel, wobei er sich darum bemühte, seine Fassung zurückzuerlangen. Als hätte sie seine Unsicherheit gespürt, sah sie mit leuchtenden Augen zu ihm auf. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, beugte sich vor und presste seinen Mund auf den ihren. Er schmeckte ihre Süße, die überlagert wurde von der Schärfe ihres Halsbonbons, das sie wegen der Halsschmerzen, die sie seit ein paar Tagen plagten, lutschte. So etwas Banales und Alltägliches für einen Menschen, und ihm war es fremd. Wann immer sie hustete, wusste er nicht, ob sie ernsthaft erkrankt war, und kam fast um vor Sorge, während alle anderen es nicht weiter beachteten. Manchmal hatte er sich auch um Gelassenheit bemüht und ihr Klagen über Kopfschmerzen nicht kommentiert, woraufhin sie ihm Ignoranz vorgeworfen hatte. Seine letzte Krankheit lag etwa zweihundert Jahre zurück – bis er Lilly begegnet war, hatte er sich über Derartiges keine Gedanken mehr gemacht, und nun merkte er, wie entrückt er dem normalen menschlichen Dasein war.
Wie sollte ihre Beziehung nur auf Dauer funktionieren? Er würde sie immer lieben, ganz gleich, wie sie sich im Lauf der Zeit veränderte. Aber zugleich zerfraß ihn die Angst vor dem Tag, an dem sie sterben würde. Er mochte für einen Menschen in weiter Ferne liegen, für ihn jedoch schien der Zeitpunkt in riesigen Schritten näher zu kommen. Er glaubte nicht, dass er dann noch die Kraft hätte weiterzuleben, doch hatte er eine Wahl? Durfte er Antares’ Geschenk leichtfertig zurückweisen, indem er seiner Existenz ein Ende setzte? Seine Freunde und seine Aufgabe verraten? Er unterdrückte einen Seufzer. Die trüben Wintermonate schlugen ihm aufs Gemüt. Er sollte den Augenblick genießen, anstatt sich über die Zukunft zu sorgen, und endlich seine düsteren Vorahnungen abschütteln. Er ergriff ihre Hand. »Folge mir, ich habe eine Überraschung für dich.«
Sofort strahlte sie ihn in kindlicher Vorfreude an. »Was ist es?«, flüsterte sie aufgeregt.
»Warte ab. Ich möchte dein Gesicht sehen, wenn ich es dir zeige.«
Sie hüpfte ausgelassen auf der Stelle. »Was stehen wir dann noch hier herum?«
Mit einem Lachen führte er sie den Pfad, der die Ortschaft am Waldrand entlang umrandete, weiter ins Tal hinunter. Wieso war er nur so schwach?, fragte er sich erneut, während er gedankenverloren auf den Weg starrte, dessen feine Eisschicht im Mondlicht wie Kristallstaub schimmerte. Genügte es nicht, dass Samuel und Ansgar sie beinahe getötet hatten? Wie konnte er nur so selbstsüchtig sein, sie in Gefahr zu bringen? Er spürte doch, dass sich ihnen etwas Böses näherte.
Sie gingen zu einem alten Häuschen, das abseits des Dorfes stand, umgeben von einem verwilderten Garten, den eine hohe Hecke vor neugierigen Blicken schützte. Sein Besitzer suchte bereits seit einem halben Jahr nach einem neuen Mieter, aber die abgeschiedene Lage und die altertümliche Aufteilung mit zahlreichen kleinen Räumen und nur einem Holzofen als Heizung schreckten die meisten Menschen ab. Deshalb hatte er nicht viele Fragen gestellt, als Ras es in Raphaels Auftrag gemietet hatte. Die Tatsache, dass er für sechs Monate bar im Voraus bezahlt hatte, hatte sein Übriges getan.
Als sie vor dem hohen schmiedeeisernen Tor stehen blieben, sah Lilly ihn fragend an. »Besuchen wir jemanden?«
»Geduld.« Er hätte nie gedacht, dass es ihm so viel Vergnügen bereiten würde, jemandem eine Freude zu machen, aber ihre vor Aufregung geröteten Wangen und ihr glückliches Lächeln zerstreuten seine finsteren Gedanken.
»Du machst es ja ganz schön spannend«, murrte sie und knuffte ihn liebevoll in die Seite.
Raphael holte einen Schlüsselbund hervor, an
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