Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt
so makellos wäre wie jetzt. Seine Schönheit, neben der sie sich so unscheinbar vorkam, schüchterte sie schon jetzt ein. Wie würde es erst dann sein? Liebe mit einem Verfallsdatum.
Sie zog BH und Slip aus, hüllte sich in ihren blassrosa Bademantel und ging in das kleine Bad, das sich ihre gesamte Familie teilte. Sie drehte die Dusche so heiß auf, dass dichte Dampfschwaden aus ihr emporstiegen, stellte sich unter den Strahl und hoffte, dass das Wasser einen Teil ihrer Sorgen mit sich nehmen würde. Sie hatte sich die Liebe so einfach vorgestellt. Natürlich gäbe es Streitereien, womöglich würde es sogar wie bei ihren Eltern mit dem Tod enden, einem banalen Unfall, der ihren Vater aus dem Leben gerissen hatte, aber mit jedem neuen Tag standen alle Möglichkeiten offen. Sie hingegen fühlte sich, als wäre sie jeglicher Optionen beraubt. Es gab nur noch das Ende, auf das sie unaufhaltsam zusteuerte.
Tränen traten in ihre Augen. Sie lehnte ihren Kopf gegen die gekachelte Wand und ließ den Wasserstrahl auf ihren Nacken herabprasseln, während sie die Rinnsale, die ihre Beine entlangliefen, beobachtete. Ein bitteres Auflachen stahl sich über ihre bebenden Lippen. Lea machte sich Sorgen um Raphael. Wie er ihren Tod überstehen würde. Dabei war es doch viel wahrscheinlicher, dass er sie verlassen würde, und wie sie das verkraften sollte, wusste sie nicht.
Ihre Mutter wäre am Tod ihres Vaters beinahe zugrunde gegangen. Nur die Tatsache, dass sie noch ein Kind hatte, zwang sie dazu weiterzuleben. Lilly würde ganz allein sein.
3
† W ie jeden Morgen verbrachte Lilly einige Zeit vor dem Spiegel, um ihre dunklen Augenringe mit Concealer zu verbergen. Trotzdem beäugte ihre Mutter sie kritisch, als sie nach unten in die Küche ging. Ihre plötzliche Vorliebe für Make-up war ihr nicht entgangen, schließlich wusste sie genau, dass ihre Tochter eine makellose Haut hatte und dass dies eigentlich nicht nötig war.
»Kaffee ist in der Thermoskanne«, sagte sie, nachdem sie ihr knapp zugenickt hatte.
»Danke«, murmelte Lilly, schnappte sich eine Jumbotasse und schenkte sich ein. Mittlerweile verzichtete sie auf Zucker und Milch. Sie brauchte Koffein pur, um am Morgen in die Gänge zu kommen. Eine weitere Veränderung, die Moni mit stummer Missbilligung zur Kenntnis nahm.
Sie atmete erleichtert auf, als Thomas mit einem fröhlichen Morgengruß den Raum betrat und sich zu ihnen an den Tisch setzte. Für ihn stand Moni auf, goss ihm Kaffee ein und gab ihm einen flüchtigen Kuss. Wie sich die Zeiten änderten. Lilly schlug die Augen nieder und schluckte trocken. Ihre Mutter, die Freundschaft, die sie einst verbunden hatte, fehlten ihr so sehr.
Nachdem auch ihr Stiefbruder Samuel endlich bereit zum Aufbruch war, ging sie in die Diele, um ihren alten Armeemantel – eines der wenigen Dinge, die ihr von ihrem Vater geblieben waren – und schwere Winterstiefel anzuziehen. Ein flauschiger Schal rundete das Ganze ab, sodass sie hoffte, auf dem Weg zur Schule nicht zu erfrieren. Kälte und Schlafmangel. Ein guter Start in den Tag. Sie beäugte Samuel von der Seite, als dieser sich ebenfalls anzog. Er sah noch schlechter aus als sie. Dunkle Ringe umschatteten seine einst so fröhlichen braunen Augen, und seine Wangen wirkten eingefallen. Nur sein blonder Haarschopf erinnerte nach wie vor an den muskulösen Surferboy, den die Mädchen umschwärmten. Schuldbewusst biss sie sich auf die Unterlippe. Wann hatte sie das letzte Mal unter vier Augen mit ihm gesprochen? Sie wusste es nicht. Als sie nach draußen gingen und sich in Thomas’ immerhin schon vorgeheiztes Auto quetschten, nahm sie sich fest vor, wieder mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Während der Fahrt sah sie aus dem Fenster und bewunderte den Schnee auf den Dächern, der nicht an eine feine Schicht aus Puderzucker erinnerte, sondern schwer und sirupartig wie Zuckerguss auf den Schindeln lag.
Trotz der Kälte konnte sie es nicht erwarten auszusteigen und verabschiedete sich hastig, sobald Thomas den Motor ausgeschaltet hatte. Dann eilte sie, so schnell es der glatte Boden erlaubte, durch einen schmalen Tunnel in der Mauer, die nahtlos in das aus Fachwerk errichtete Schloss überging. Die Gebäude erinnerten an zahllose ineinander verschachtelte Hexenhäuschen, die eine Orientierung zwar erschwerten, aber dafür auch halb im Verborgenen liegende Gassen, Balkone und Pfade boten. Der Durchgang war nur einige Meter lang und führte in eine der drei Parkanlagen, die
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