Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt
allein durch den Wald zu streifen. Torge und Ras hatten sie ermahnt, nicht leichtsinnig zu werden. Menschen mochten keine Gefahr mehr für sie sein, aber einer Sternenbestie hatte sie weiterhin nichts entgegenzusetzen. Sie lauschte, wollte ihrer Angreiferin zuvorkommen, doch dann war es etwas ganz anderes, was sie hörte. Ein leises Schluchzen, das der Wind über den See trug. Sie widerstand dem ersten Impuls, zur Quelle der Geräusche zu eilen, und kletterte stattdessen eine schmalwüchsige Birke empor, deren kahle Äste ihr zwar keinen Schutz vor suchenden Augen boten, von der aus sie jedoch einen guten Überblick über das Gelände hatte. In was für eine Welt war sie nur geraten, fragte sie sich erneut, dass sie sofort an eine Falle dachte, anstatt einem Menschen in Not zu helfen. Wollte sie so leben?
Das Weinen drang von einem abgestorbenen Baum herüber, dessen zerborstener Stamm und tote Äste von einer dicken Schicht Wintermoos bedeckt waren. Lilly kniff die Augen zusammen, um mehr erkennen zu können, nahm die vertraute Gestalt von Lea wahr. Schlagartig war alle Vorsicht vergessen. Sie sprang herunter und eilte auf das Mädchen zu. Was war geschehen, das sie so in die Verzweiflung trieb?
»Lilly«, sagte Lea, kaum dass sie vor dem verwitterten Baum stand. Das braunhaarige Mädchen saß zusammengekauert auf einem ehemals kräftigen Ast, der nun morsch und brüchig wirkte. Sie trug nichts außer einer Jeans und einem geringelten Shirt. An ihren nackten Füßen klebten schwarze Erde, modrige Tannennadeln und Blätter. »Du solltest nicht hier sein, mich nicht so sehen.«
Lilly schwang sich empor, setzte sich vor ihre Freundin und ergriff ihre Hand, die wie verloren auf dem Moospolster lag. »Was ist geschehen?«
Ihre Augen, deren Farbe an einen grünen Waldteich erinnerte, in dem sich ein regenverhangener Himmel spiegelte, füllten sich mit Tränen.
Erschrocken rutschte Lilly vor, nahm sie in die Arme und spürte ihren Körper an ihrer Schulter in trockenen Schluchzern erbeben.
»Torge … er …«
Ein kalter Windhauch strich über die Mädchen hinweg, veranlasste die feinen Härchen in Lillys Nacken, sich aufzurichten, als sie die nächsten Worte ihrer Freundin vorausahnte.
»Er altert.«
Diese Nachricht traf sie wie ein Schlag in die Magengrube. Nicht dass sie wirklich ein Recht hatte, überrascht zu sein. Torges Schicksal stand schon lange fest, aber wie mit so vielen schlimmen Dingen hatte sie versucht, es zu verdrängen. Erst recht, seit sie selbst eine Sternenseele war und sie in seinem Schicksal ihre eigene Zukunft vor sich sah. Falls keine Sternenbestie ihrem Leben ein vorzeitiges Ende bereitete, würde sie eines Tages ebenfalls rapide anfangen zu altern und innerhalb weniger Monate sterben. Es war eine Sache zu wissen, dass man eines Tages den Tod finden wird, eine andere, den genauen Zeitpunkt und die Todesart zu kennen.
Sie zog Lea enger an sich. »Das tut mir so leid. Du solltest nicht allein hier draußen sein. Die anderen müssen krank vor Sorge um dich sein.«
Lea löste sich sanft aus ihren Armen, strich über ihre feuchten Wangen und trocknete ihre Augen mit den mascaraverschmierten Ärmeln ihres Shirts. »Ich will nicht, dass er mich so sieht«, flüsterte sie. »Es ist ohnehin schon schwer für ihn. Er ist derjenige, der sterben wird. Mir steht es nicht zu, Theater zu machen.«
Nur dass du nun auch an deine eigene Sterblichkeit erinnert wirst, dachte Lilly. Im Gegensatz zu Mikael kannten Lea und Torge den genauen Tag, an dem sie von ihrem Stern auserwählt worden waren, und nun konnte Lea genau vorhersagen, wie lange sie noch zu leben hatte. Lilly hingegen konnte sich nur auf die ungefähren Berechnungen der Astronomen verlassen, für die ein Lichttag mehr oder weniger keine signifikante Bedeutung hatte. Wenn es um die eigene Lebensspanne ging, erhielten solche Werte ganz andere Dimensionen. Selbst wenn Mikael eines Tages anfangen würde zu altern, wäre es für sie kaum mehr als ein grober Anhaltspunkt, da er nicht mal das Jahr kannte. Sie schauderte bei dem Gedanken daran, von diesem Moment an jeden Tag in den Spiegel zu blicken und auf das erste Anzeichen des Verfalls zu warten. »Er wird es verstehen«, sagte sie mit mehr Zuversicht, als sie verspürte. »Aber wenn er eines nun braucht, dann ist es dich. Er wird nicht erwarten, dass es dich kaltlässt, was mit ihm geschieht. Ihr seid füreinander bestimmt.«
»Ich weiß.« Lea seufzte, schloss die Augen und lehnte sich an den
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