Sternenseelen Bd 2 - Solange die Nacht uns trennt
Baumstamm. Eine einzelne Schneeflocke sank herab und setzte sich auf ihren Handrücken, wo sie zu einem schimmernden Fleck schmolz. »Es ist nur … Etwas zerbrach in mir, als wir heute die erste Falte in seinem Gesicht entdeckten. Ich ertrage den Gedanken nicht, ihn zu verlieren. Es zerreißt mich innerlich. Was soll ich nur machen?«, endete sie in einem Flüstern.
Hilflos sah Lilly sie an. Was für Trost konnte man jemandem schenken, wenn die Sterne ihr Schicksal längst besiegelt hatten? Mit einem Mal erkannte sie, dass Leas tapfere Worte – sie sei dankbar für die Zeit, die ihr die Sterne geschenkt hatten – nicht mehr waren als der Versuch, sich dem Grauen, das sie erwartete, nicht zu stellen und Torge nicht merken zu lassen, wie sehr es sie in Wirklichkeit quälte. »Sei stark für ihn«, sagte sie. »Ich werde immer für dich da sein, aber ich weiß, dass du die letzte Zeit mit ihm genießen willst.«
»Wie soll ich das schaffen? Wie soll ich ihn ansehen, ohne in Tränen auszubrechen?« Sie öffnete die Augen und blickte Lilly voller Verzweiflung an.
»Das musst du nicht. Zeig ihm deinen Kummer, doch lass dich nicht davon übermannen. Sei für ihn da, denn er wird mindestens so viel Angst haben wie du, aber ihr seid füreinander bestimmt. Ihr werdet auch das gemeinsam überstehen. Wie alles andere. Und dann werdet ihr für immer bei eurem Stern vereint sein.«
Eine einzelne Träne rann über Leas Wange. »Danke«, sagte sie schlicht. »Ich werde es versuchen.«
42
† N eidisch spähte sie in das Innere des Hauses, beobachtete die kleine Familie, die um einen Tisch saß und sich von ihrem Tag berichtete, während sie ein Blech Pizza unter sich aufteilten.
Sie fand sich immer öfter an den Fenstern fremder Häuser wieder, beobachtete die Menschen bei ihrem täglichen Treiben und wünschte sich, eine von ihnen zu sein. Das war neu. Sie wusste nicht, woher dieser Wunsch kam, aber inzwischen fragte sie sich ständig, ob sie nicht ebenso glücklich sein könnte wie diese Familie.
Wie erwartet war ihre Herrin nicht erfreut darüber gewesen, dass eine neue Sternenseele geboren worden war. Noch viel weniger angetan war sie von der Tatsache, dass sie an der Erschaffung beteiligt gewesen war. Nur eine Berührung durch die Herrin war die Strafe gewesen. Sie konnte nicht länger als eine Minute gewährt haben, aber diese Minute war ihr wie eine Ewigkeit gefüllt mit Agonie erschienen. Allein der Gedanke daran ließ neue Wellen des Schmerzes durch ihren Körper wogen.
Sie wollte sich die Konsequenzen nicht ausmalen, denen sie sich gegenübersehen würde, sollte ihre Herrin jemals hinter ihren inneren Zwiespalt kommen. Etwas an diesem Raphael ließ sie nicht los. Immer öfter erwischte sie sich dabei, ziellos durch den Wald zu irren, nur um festzustellen, dass ihre Schritte wie von unsichtbaren Fäden gezogen zu ihm führten. Was war es nur an ihm, was etwas tief in ihrer Seele, von der sie nicht geahnt hatte, dass sie existierte, berührte? Wusste er etwas über ihre Vergangenheit? Konnte er womöglich helfen, das Puzzle ihres Lebens zusammenzusetzen?
Die Mutter stand unter dem fröhlichen Gejohle ihrer Familie auf, holte ein paar Schälchen, eine Packung Vanilleeis und Schokoladensoße, über die die Kinder wie ausgehungerte Wölfe herfielen. War sie auch mal so gewesen?
Sie zog sich von dem Fenster zurück, verfiel in einen Trab, den sie während der nächsten Stunden beibehalten würde. Die Herrin hatte ihr noch kein Zuhause zugeteilt, deshalb verbrachte sie die Nächte damit, durch die Gegend zu streifen, ständig in Bewegung, damit die Kälte sie nicht einholte.
Sie spürte seine Gegenwart, jederzeit konnte sie in die Richtung deuten, in der er sich aufhielt. Sie beschleunigte ihren Schritt. Rennen, bis der Atem versagte, sie in die Schwärze stürzte. Bewusst schlug sie den Weg ein, der sie von ihm fortführte, raste über Baumstämme und Büsche hinweg, erschreckte eine Rotte Wildschweine. Ihre Muskeln erwärmten sich, aber ihre innere Kälte verschwand nicht. Schließlich blieb sie keuchend stehen, wischte eine gefrorene Träne von ihrer Wange. So konnte es nicht weitergehen. Sie würde Raphael aufsuchen, ihn zur Rede stellen, herausfinden, was er wusste. Ob er freiwillig antwortete oder nicht – sie würde ihre Antwort bekommen –, und falls notwendig würde sie ihn töten. Die Strafe für dieses Vergehen wäre immer noch harmlos im Vergleich zu dem, was ihr bevorstand, sollte die Herrin jemals
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