Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
Auge ihn verfolgen konnte; rascher, als die Flamme aus der Waffe des Benderzic aufröhrte. Instinktiv sprang der Lenkende beseite und zog Khira mit sich. Das dichte Laub, auf dem sie eben noch gestanden hatten, verbrannte qualmend.
Der Benderzic fiel, wie der erste gefallen war, langsam; der Spieß steckte ihm zitternd im Brustkorb. Auch jetzt hallte der Boden beim Aufprall nicht wider.
Zwei Benderzic – tot, die Gesichter auf lebende Erde gepreßt, statt auf Schiffsmetall. Beide verdammt in den Augen ihrer Brüder.
Khira starrte auf den toten Benderzic; Adars Helligkeit erstarb in ihren Augen. Unbewußt hob sie die Hand ans Gesieht. Rauch wirbelte um sie herum, umwob sie wie eine Steinfigur.
Der Lenkende war der erste, der aus dem Schock erwachte. Er ergriff Khiras Hand und zerrte sie von dem toten Benderzic fort; fort von den Flammen, die träge auf die Leiche zu züngelten. Sie stolperten durch den dünner werdenden Rauch, und der Lenkende versuchte zu begreifen, was mit ihm geschehen war. Als die Benderzic angekommen waren, war er gelähmt und ängstlich gewesen; dann war er unerklärlicherweise beides nicht mehr gewesen. Anfangs hatte er hilflos dagestanden; bereit, seinen Spieß auf den Boden zu werfen; statt dessen hatte er mit ihm getötet.
Und jetzt – er schüttelte den Kopf, versuchte Klarheit hineinzubringen. Irgend etwas war mit ihm geschehen, und irgend etwas geschah noch immer. Weil so viele Dinge in ihm lebendig wurden, während er lief. Erinnerungen: der angenehme Geschmack von gebratenem Huhn; der Geruch des Regens in den Bergen; die helle Farbe von Khiras Wangen, wenn sie gegen den Wind ging. Nichts davon waren seine Erinnerungen. Sie gehörten Dunkeljunge; aber plötzlich waren sie intensiv und lebendig.
Er runzelte die Stirn, hustete. Dunkeljunges Mut, Dunkeljunges Erinnerungen – Dunkeljunges Bewußtsein. Verwirrt spürte der Lenkende, wie es sich ihn ihm rührte und erwachte; als hätte der Tod der Benderzic eine lange Trennung aufgehoben. Er hatte Dunkeljunges Mut herausgefordert. Er hatte Dunkeljunges körperliche Tüchtigkeit herausgefordert. Und jetzt fühlte er sich aufgesogen in Dunkeljunges erwachendem Bewußtsein.
Als wäre es sein eigenes.
Ihm schwindelte; er kämpfte gegen die aufsteigende Panik an, die ihn zu überschwemmen drohte. Wenn er ängstlich und wagemutig, neugierig und erschreckt, stark und schwach war; alles auf einmal, alles in ihm selbst; wenn es keine Trennungen, keine Schranken; keine Türen gab; wenn er die Vergangenheit berühren und nach der Zukunft greifen könnte; alles zugleich ...
Das wäre Befreiung. Das wäre Freiheit. Wenn aber sein und Dunkeljunges Bewußtsein miteinander verschmölzen, wenn er ohne Zwang alle Gaben nutzen könnte, die ausschließlich Dunkeljunges Gaben gewesen waren, wenn er sich aus dem wiedererwachten Netzwerk von Dunkeljunges Erinnerungen nicht mehr befreien könnte ... und er konnte es nicht. Er versuchte, den Strom der Bilder einzudämmen, und versagte. Sie fuhren fort, auf ihn einzustürmen; Farben, Klänge, Ereignisse, Gefühle. Wenn er sich nicht davor schützen konnte –
wer war er dann?
Wer war er, als er im mondhellen Wald innehielt, während das Feuer hinter ihm im Dampf erstickte, und herausfand, daß er seinen eigenen Namen nicht sagen konnte? Wer war er, als er auf seine Hände starrte und nicht zu sagen vermochte, ob es Dunkeljunges oder des Lenkenden Hände waren? Wer war er, als er sein Gesicht berührte und wußte, es war seins
(seins),
aber die Person, die seine Gesichtszüge trug, nicht beim Namen nennen konnte?
Er holte bebend Atem; sein Herz raste wie irrsinnig. Was war mit ihm geschehen? Er war nicht länger der Lenkende, aber ebensowenig war er Dunkeljunge. Zuvor war er ängstlich gewesen (entweder vor der Vergangenheit oder vor der Zukunft), aber wenigstens hatte er seinen eigenen Namen gekannt. Jetzt kannte er ihn nicht. Es war unglaublich – er
kannte ihn nicht.
Keiner der Namen, die er benutzt hatte, paßte auf ihn.
Der Namenlose biß sich auf die Lippen und schloß fest die Augen. Er versuchte verzweifelt, sich zu teilen – versuchte, den Lenkenden von Dunkeljunge zu trennen. Aber seit der zweite Benderzic gestorben war, war etwas geschehen. Er konnte das Bewußtsein des Lenkenden nicht mehr von Dunkeljunges Bewußtsein unterscheiden.
Kadura hatte ihm gesagt, er wäre eine Person. Er hatte darauf bestanden, zwei Personen zu sein. Und jetzt war er plötzlich – niemand mehr. Die Verwirrung
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