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Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit

Titel: Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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Sehkraft des Jungen ließ nach, und eine seltsame Lähmung überkam ihn. Obwohl Mut und Angst so heftig wie zuvor waren, hörten seine Arme auf, um sich zu schlagen, und seine Füße, wild zu treten. Als er das Bewußtsein verlor, senkte jemand einen Metallhelm über seinen Kopf. Und danach kam nur noch Leere. Welches Leben er auch immer vorher gekannt haben mochte; das Schiff hatte ihn ergriffen, und der Metallhelm hatte ihm jede Erinnerung daran gestohlen. Der Helm hatte ihm tatsächlich zunächst nicht einmal das Wissen darüber gelassen, daß er beraubt worden war.
    Nicht schon wieder.
Er hatte lange – ein volles Jahr – gebraucht, aus dieser Leere herauszukommen und anzufangen, sich selbst zu finden. Tief in ihm, an geheimen Orten, hatte er es fertiggebracht, einen winzigen Zipfel Identität vor dem Helm zu verstecken. Er hatte sogar Pläne geschmiedet, vom Lenkenden über diese kostbaren Reste aufgeklärt zu werden; von jener unerbittlichen Stimme, die ihn Tag und Nacht lenkte und antrieb, zu beobachten, einzustufen, zu fragen und zu lernen – gleichgültig gegenüber dem Preis, den er in Schlägen bezahlte.
    Er wußte zum Beispiel, daß er nicht immer unter diesen groben Menschen gelebt hatte. Genausowenig konnte er sich nicht daran erinnern, wo er gelebt hatte, bevor das schimmernde Schiff ihn aufgenommen hatte; aber kurze Momentaufnahmen von einem klaren, goldenen Himmel tauchten jetzt manchmal in seinem Kopf auf, und zuweilen erinnerte er sich an Gesichter, die zu seinem früheren Leben gehören mußten. Gewiß waren sie nicht so wie die rauhen Gesichter, die er hier sah.
    Er seufzte, hing seinen Erinnerungen nach: freundliche Gesichter mit Augen, so dunkelviolett wie die Nacht. Und Haare, die in nachtschwarzer Fülle fielen.
    Doch der Lenkende mochte es nicht, wenn er sich an diese Gesichter erinnerte. Scharf forderte er, damit aufzuhören und einen unbekannten Sämling, der im Unterholz wuchs, zu klassifizieren. Dem Jungen gelang es, die Vision des goldenen Himmels in seinem Geist zu bewahren, während er die winzigen Blätter des Sämlings zerdrückte. Ihr Duft war herb. Rasch, ohne darüber nachzudenken, schlitzte er den winzigen Stengel der Pflanze seitlich auf und untersuchte ihn im Querschnitt. Sie war offenkundig mit der gelbblühenden Schlingpflanze verwandt, die am Ufer des Wasserlaufs wuchs, wenn es regnete. Geschickt grub er das Erdreich beiseite, in dem die kleine Pflanze gekeimt hatte, und analysierte den organischen Gehalt. Ein einzelnes Insekt klebte an der Unterseite eines Blattes, und er musterte es minutenlang. Keine Einzelheit war dem Lenkenden zu gering. Er bestand darauf, alles zu erfahren, in der Art, wie ein erwachsener Mann seine entfernteste weibliche Verwandte ansprach, bis zum Muster der Kreuzschraffierungen an der Unterseite eines tönernen Wassertopfes. Der Lenkende war unersättlich.
    Manchmal zeigte er sich auch großzügig. Seit der Junge hierhergekommen war, hatte ihm der Lenkende oftmals Zuflucht vor seinen Sorgen geboten. Der Junge stand seufzend auf. Gewiß, er war nun müde und besorgt. Wenn der Lenkende ihn doch ruhen lassen, ihn in den feuchten Schatten kriechen lassen würde, so daß er seine Stirn auf die Knie legen und sich nur für einige Augenblicke zu seinen Brüdern gesellen könnte ...
    Aber der Lenkende verweigerte es ihm. Ausgenommen unter den mörderischsten Bedingungen war die Trance mit seinen Brüdern ein Lohn, der der Nacht vorbehalten war, wenn es nichts mehr zu tun oder zu sehen gab. Doch jetzt gab es viel zu tun. Der Junge seufzte schwer und setzte seinen Weg durchs Unterholz fort. Der Boden unter seinen Füßen war elastisch, der entfernte Donner undeutlich und nur wenig mehr als ein Versprechen des Regens.
    Als der Junge den Rand des kleinen Tales erreicht hatte, schlüpfte er vorsichtig vorwärts. Sollte das Schiff die Zeichen tragen, an die er sich erinnern konnte, wollte er sich rasch entfernen, bevor man ihn wieder ergreifen konnte. Er liebte diesen Ort und seine Menschen nicht, aber sie waren immer noch besser als die Leere, die der Metallhelm in seinem Kopf erzeugt hatte.
    Da erblickte er das Schiff und fand keine dunklen Zeichen auf ihm. Es hatte eine glänzende Haube auf einer metallenen Hülse und trug ein entsprechendes Erkennungsmerkmal an seinem rohrförmigen Körper, und es lag zerbrochen und plump zwischen den Bäumen. Es würde nicht mehr fliegen. Sollte es eine Besatzung gehabt haben, so waren ihre Mitglieder beim Absturz

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