Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
vom Fenster ab und kleidete sich mit bebenden Fingern an. Irgendwo, so sagte sie sich – und Tränen glitten unbemerkt ihr Gesicht hinab – irgendwo auf dem Berg liegt eine zerbrochene Schale.
Schweigend band sich Khira die Trauerschärpe um die Taille. Alzaja würde nicht zurückkehren.
3 Khira
Der Winter streckte seine eisigen Finger vom Berg hinab quer durchs Tal. Leichtes Schneegestöber fegte durch die Blätter, leckte den blanken Boden der Felder und schmolz dort. Die Bäume des Obstgartens standen erstarrt im trockenen Sommergras. Blüten und Früchte waren längst abgefallen.
Khira saß an Borton's Fall, ihr kastanienbraunes Haar wurde durch einen losen Knoten gehalten. Als sie über da Tal schaute, war ihr Gesicht so bleich und blutleer wie der Winter selbst. Bereits früh an diesem Morgen hatte sie einen Trupp von Linsenwärtern beobachtet, die miteinander redend den Berg hinabschritten. Wenig später hatte sie einen letzten Hirten die Hänge hinunter eilen sehen, mit Mutterschafen und Lämmern. Abgesehen davon war Khira seit drei Stunden allein auf dem Berg.
Allein mit der ersten frostigen Gegenwart des Winters, die sie umgab. Allein mit dem Schmerz der Versteinerung, der sich seit dem Frühjahr vertieft hatte und mit dem Herangehen des Winters zum schmerzhaften Brennpunkt geworden war. Bald würde Dunkelmorgen sein, die Zeit, da die Leute aus den Steinhallen ihre Türen versiegelten, überall Schlafstaub verstreuten und sich für den Winter in ihre Betten begaben. Sie schliefen in Familien: Eltern, Großeltern, Kinder, Tanten und Kusinen.
Aber im Palast gab es keine Familienquartiere, keinen verstreuten Schlafstaub, keinen Winterschlaf. Wenn die Steinhallen für den Winter verschlossen wurden, würde die Barohna den Palast verlassen und zum Winterthron in den Bergeshöhen gehen. Dann waren die Palasttöchter alleingelassen und mußten im eingeschneiten Palast selbst zurechtkommen.
Allein. Und in diesem Jahr war Khira die einzige Tochter. MU lest zusammengepreßten Lippen öffnete sie ihr Bündel Und zog einen mit feinem grauen Staub gefüllten Beutel hervor. Jeden Spätsommer gingen Schnitter zu den Westhängen Terlaths ins Walddickicht, wo die Schlafblätter wuchsen. Sie füllten große, gewirkte Beutel mit den abgefallenen Blättern und gingen dann ins Tal zurück, um sie zu Staub zu mahlen. Am Dunkelmorgen, wenn das Vorabend-lest vorüber war und die Familien sich für den Winter eingemummt hatten, kamen Streuer zu jeder Tür und verteilten den Schlafstaub über den Boden. Und die Leute in den Hallen träumten, bis ihre Körper ihnen sagten, daß die Zeit des Schlafens vorüber war.
Weder Barohnas noch Palasttöchter benutzten Schlafstaub; nicht mehr seit der Zeit Helsas, die den Staub benutzt und von Flammen geträumt hatte. Seufzend strich Khira über den Beutel. Sie hatte noch keinen Sonnenstein, mit dem sie Feuer sammeln konnte. Noch hatte sie Feuer, um es zu sammeln. Sie würde es nicht bekommen, bis sie ihre Probe bestanden hatte. Noch belastete sie das generationenalte Verbot stark, und sie wußte, daß sie den Staub aus den Vorratskammern nicht hätte nehmen sollen.
Aber der Gedanke, den Winter allein und wach im Palast zu verbringen, und die Versuche, sich gegen Alzajas Andeutungen unempfindlich zu machen ...
Sie sprang auf, steckte den Beutel in ihr Bündel und ergriff den Spieß. Wenn sie vom Feuer träumte, wenn es brennen sollte, dann würde es nur die Hirtenhütte, in der sie schlief, ergreifen – und sie. Bei der Kälte des Berges und in ihrem Herzen, schien ihr das in dieser Zeit kein großer Verlust.
Sie hielt stumm inne und starrte für einen Augenblick hinab über das Tal, ehe sie den Weg hinaufschritt. Sie beschattete die Augen und vermeinte, Arbeiter unterscheiden zu können, die zwischen dem Palast und den Hallen hin und her gingen und Vorbereitungen für das Vorabendfest zum Dunkelmorgen trafen. Für einen Moment zog sich ihr Magen zusammen, und sie dachte an gebratenes Fleisch, dunkle Brote und viel Zuckerwerk. Niemand, der mager in den Winterschlaf fiel, würde die verschlafenen Monate überleben. Am Vorabendfest aß jeder, soviel er konnte –dann wartete er eine Weile und aß noch mehr. Und obwohl sie keinen Winterschlaf hielt, hatte Khira sich diesem Festmahl stets mit großem Appetit angeschlossen.
In diesem Jahr würde sie dem Fest überhaupt nicht beiwohnen. Brennende Tränen strömten ihr aus den Augen, Tränen der Wut. Sie blickte mit steinernem
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