Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit
Gesicht hinunter, dann drehte sie sich um und lief den Pfad hinauf.
Sie hatte eine kleinere Hirtenunterkunft ausgewählt, um dort ihren Winterschlaf zu halten. Die Hütte stand einsam und blickte über eine erfrorene Wiese hinweg. Khira war bereits vor fünf Tagen auf dem Berg gewesen und hatte einige Zeit damit verbracht, die Hütte vorzubereiten. Zuerst hatte sie Segge geerntet und in gepreßten Garben an den Innenwänden der Hütte aufgetürmt. Als das schaumig-weiße Sekret das Schilf zu einer dichten, isolierenden Schicht zusammengebacken hatte, hatte sie die überwuchernden Bänder der bestielten Lampen, die von der Decke hingen, herab-gezerrt. Die verbliebenen Stümpfe der Stengellampen strahlten mit ihrem blassen, orangefarbenen Licht bis in die Ecken. Der peitschende Wind drang nun überhaupt nicht mehr in die Hütte ein, und es waren ausreichend Decken vorhanden, in die sie sich einwickeln konnte. Zufrieden mit ihren Vorbereitungen war sie ins Tal zurückgekehrt.
Und nun betrat sie die Hütte erneut, zitternd, ihre Hand packte das Bündel fester. Der karge Raum lag im Halbdunkel, er war bereit. Aber sich hier allein für den Winter abzuschließen, durch den Schnee von Tal abgeschnitten, und die Träume herbeizuzitieren, die den Menschen im Tal vertrau waren ... Rasch leerte Khira ihr Bündel aus und ging in der Hütte herum. Sie würde bis zur Nacht warten, ehe sie den Staub verstreute. Und dann konnte sie nur noch hoffen, dass er bei einer Palasttochter genauso schnell wirkte wie bei einem Kind aus den Steinhallen.
Sie verbrachte die Mittagsstunden voller Unruhe. Die Hütte schien bereits von Träumen umschlossen. Zweimal entfloh sie den beengenden Wänden und stieg den Weg empor, um ins Tal hinabzuschauen. Der Lockruf des Palastes war intensiv, selbst wenn er einen langen und einsamen Winter ankündigte. Als der Tag verging und der Himmel sich verdunkelte, wurde der Wind rauher, heulte von den felsigen Gipfeln herab. Khira überlegte, ob er vielleicht Ihre Stimmung lesen konnte und sie wiedergab.
Dann schaute sie nach unten; erblickte eine weiße Gestalt /wischen den Felsen in der Nähe des Weges und vergaß allen Trübsinn. Sie fror unwillkürlich. Schneeminxe gehörten zu den seltenen Raubtieren des Berges. Sie waren nicht größer als ein erwachsener Mensch, aber ihre Zähne waren grausam und ihre Klauen unbarmherzig. Sie verließen ihre Höhlen jedes Jahr um diese Zeit, kurz bevor der Schnee kam, um auf die kleineren Geschöpfe des Berges Jagd zu machen, während diese nach einem letzten Mahl vor der Überwinterung suchten.
Aber Schneeminxe jagten Menschen ebenso wie kleine Geschöpfe. Khira stand wie ein Stein und versuchte, ihr pochendes Herz zum Schweigen zu bringen. Der Minx hielt inne, als er zwischen den Felsen herumsuchte, und starrte auf sie, seine rosafarbenen Augen glitzerten sofort gierig. Dann nahm irgend etwas in den Felsen seine Aufmerksamkeit in Anspruch, und er sprang, wobei sich seine weißen Ohrbüschel bewegten. Ein kleines Tier kreischte, und der Minx schlug nach ihm. Als der Kampf vorüber war, tauchte der Minx nicht mehr auf.
Khira wartete, bis ihre Füße taub waren. Dann ging sie den Weg zurück und schaute sich argwöhnisch nach Anzeichen für die Gegenwart von Minxen um.
Nach einiger Zeit – Schnee fiel in spiraligen Böen hinab, und der Himmel war vom Sturm verdunkelt – erreichte sie die Hütte und verriegelte die Tür. Sie zog Jacke und Handschuhe aus und schaute sich um. Sie war nicht darauf vorbereitet gewesen, daß es hier so eng sein würde. Im Palast war der Winter für sie immer die Zeit gewesen, da sie über die Flure rennen konnte, ohne daß Diener zugegen waren, die es mißbilligten. Und der Winter war immer eine Zeit gewesen, da sie und Alzaja sich ihre Essenszeiten selbst auswählen konnten; Schriftrollen entzifferten, wann immer es ihnen gefiel; da sie so lange über dem Spielbrett sitzen konnten, bis einer von ihnen keine Lust mehr hatte; eine Zeit, da dem Tag keine Stunden gesetzt waren.
Hier konnte sie nur die Türe verriegeln, Staub verstreuen und träumen. Plötzlich zog sich ihre Kehle zusammen. Sie hatte natürlich schon vorher geträumt, flüchtig, in Sommernächten. Winterträume waren anders. Sie wußte es, weil sie gelauscht hatte, als Leute aus den Hallen davon erzählten. Winterträume waren angefüllt mit halbwahrnehmbaren Bildern, die niemand jemals im wachen Zustand sah, und mit Stimmen, die anfangs murmelten und dann schrillten.
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