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Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit

Titel: Sternenseide-Zyklus 1 - Kind der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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und wiegte sie, streichelte ihr Haar. »Eines Tages wirst du verstehen. Das verspreche ich dir. Der Weg wird hart sein, du wirst einsam sein, aber eines Tages wirst du begreifen, Khira. Du wirst ein Glied in der Kette von Müttern und Töchtern sein.«
    Aber sie begann bereits etwas zu begreifen, was sie nicht verstehen wollte. Sein Ausmaß war in ihrem Verstand klar aufgezeichnet. Es griff nach ihrem Bewußtsein, strebte danach, sie zu verletzen, so tief, so schmerzlich ...
    »Ich muß gehen«, sagte Alzaja.
    Nein! Dieser neue Gedanke wurde deutlicher und unerträglich. Sie konnte mit ihm nicht leben; nicht allein. »Alzaja ...«
    »Ich muß gehen«, wiederholte Alzaja und löste sich von ihr. »Bleib hier sitzen. Dies ist dieselbe Stelle, an der Mara mich verließ, und wo Denabar sie verließ. Bleib hier, bis ich von Borton's Fall ein Zeichen gebe. Dann steh auf und geh langsam zum Palast zurück, und ich gehe langsam dem Berggipfel zu. Heute werden wir beide gehen, Khira, zur gleichen Zeit.
    Denk daran, Khira, nur daran. Denk über das Gehen nach. Jedesmal, wenn du einen Fuß auf den Boden setzt, werde ich es auch tun. Wir werden zusammen gehen.« Sie stand langsam auf. »Wir werden stets zusammen gehen, Khira. Ich werde dich nie verlassen.«
    Aber sie tat es. Trotz der Tränen, die auf Khiras Wangen brannten, trotz der Röte, die ihr schließlich selbst ins Gesicht stieg, verließ sie Khira. Sie drehte sich um, nahm ihr Bündel und den Spieß und ging zwischen blaublühenden Bäumen davon; Blütenblätter berührten ihr Haar und wirbelten hinter ihr hinab. Khira blieb unter den Bäumen; nicht weil sie Alzajas Gelassenheit beim Abschied nicht zerstören wollte; nicht weil sie ihr ihre eigene, plötzlich wieder auftauchende Angst noch im letzten Moment nicht aufdrängen wollte; nicht, weil sie einen Stein im Herzen trug.
    Sondern weil sie in plötzlicher und endgültiger Gewißheit wußte, daß Alzaja nie mehr vom Berg zurückkehren würde. Und diese Gewißheit lähmte sie.
    Denn das war der furchtbare Gedanke, der in ihrem Bewußtsein Gestalt angenommen hatte: Gewißheit. »Ich hasse es, mir dich so vorzustellen«, hatte Alzaja gesagt, »hart, wo ich so weich bin.« Und es war wahr. Trotz des Schmerzes gab es eine Härte in Khira, die Alzaja nicht besaß; nie besessen hatte. Alzaja besaß andere Dinge: Gelassenheit, Feinheit, Anmut – aber es war kein Stein in ihr.
    Wie gelähmt beobachtete Khira den Weg, den ihre Schwester nahm. Sie schritt den ersten Hang des Berges hinauf, ihr weißes Hemd bot kaum Schutz gegen die Kälte. Sie besaß auch keinen inneren Schutz, kein forsches Wesen, keinen rauhen Kern. Und sie kannte ihren Mangel. Sie hatte geübt, aber halbherzig; kaum, daß sich eine Schwiele an ihren Händen gezeigt hätte. Sie hatte trainiert, weil man es von ihr erwartete, aber im Bewußtsein, daß kräftige Muskeln nicht das ersetzen konnten, woran es ihr mangelte.
    Schließlich bewegte Khira wie betäubt die Füße. Alzaja drehte sich vom Borton's Fall her um. Sie schien wie ein weißer Einschnitt in der dunklen Felsmasse im Hintergrund. Schnee lag oberhalb des Felsens; Tiahnas Frühlingsschmelze war nur bis zum Sturz vorgedrungen. Es schien Khira, als hebe Alzaja die Hand und winke ihr, fast sorglos, bevor sie sich wieder umdrehte. Es schien Khira, daß sie jetzt rascher emporstieg, eifriger, als sie ein letztes Mal zurückschaute.
    Khira verließ die Baumniederung, ihre Füße wogen schwer wie der Stein, den Alzaja in ihrem Herzen sah. Jeder Teil ihres Körpers wurde schwer niedergedrückt. Ihr Verstand war wie versteinert. Sie fand nicht einmal zu ihrer alten Wut zurück, die sie getröstet hätte.
    Es war gegen Mitte des Nachmittages, als sie den Palast erreichte. Der Himmel hatte sich bereits in der früh hereingebrochenen Frühlingsdämmerung verdunkelt. Khira schritt die Steinavenuen entlang und bemerkte die Leute nicht, die sich nach ihr umdrehten. Sie fühlte sich alt, als hätte sie ihre Kindheit unter den Bäumen verloren; zerstreut wie tote Blütenblätter; nur noch etwas, an das man sich erinnerte, was man aber nie mehr zurückerhalten konnte.
    Tiahna saß auf dem Sonnenthron, im Zentrum des sterbenden Lichtes; ihr Gesicht war so unbeweglich, wie Khira es noch nie gesehen hatte. Als Khira den Thronsaal betrat, berührte Tiahnas sonnengebräunte Hand unbewußt den Steinanhänger an ihrem Hals. Aber sie sagte nichts. Es gab keine rituellen Worte für diesen Augenblick, und niemanden, der sie

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