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Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied

Titel: Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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Geruch von Brathühnern und frischgebackenem Brot spürbar zusammen, aber er setzte sich nicht zu seiner Familie und den Palastarbeitern in den Eßsaal. Statt dessen drehte er sich um und ging den langen Flur hinunter zum Trainingsraum.
    Trotz des gescheuerten, sauberen Steinbodens und der sorgfältigen Kultivierung der Stengellampe, die leuchtend. die Wände überwuchert hatte, roch der Übungsraum nach all den Jahren, in denen er nicht benutzt worden war. An der Innenseite der Tür hielt Danior inne. Auf dem Boden lagen Matten für das Bodenturnen. Die Wände waren behangen mit schützenden Visieren, gepolsterten Westen, Stöcken, Spießen, Zielscheiben – mit allem, was eine Palasttochter für ihre Übungen brauchte, damit sie ihr Tier erlegen konnte. Alles war sauber und wartete.
    Danior ließ die große Steintür leise hinter sich zugehen. Wartend – der Übungsraum wartete. Er wartete, seit der Zeit, da seine Mutter und deren Schwestern hier trainiert hatten.
Alzaja, Mara, Denabar …
Er runzelte die Stirn. Er konnte sich nicht mehr an die Namen aller Schwestern seiner Mutter erinnern, obwohl er sie jedes Jahr zu Festzeiten hörte. Es fiel ihm leicht, sie sich vorzustellen, alle Palasttöchter, so schmächtig wie seine Schwestern und so zerbrechlich.
    Ein Frösteln lief ihm den Rücken hinab. Sieben Schwestern, sechs davon hatten bei ihrer Probe versagt und waren auf dem Berghang gestorben; eine hatte überlebt, sich verändert und den Thron eingenommen: seine Mutter. In wenigen Jahren würden seine Schwestern hierher zum Üben kommen. Er hatte nur drei. Überlebte keine, würde das Tal sterben, wenn seine Mutter die Macht der Steine verlor. Es würde niemanden geben, um die Hitze der Sonne einzufangen und sie dort zu konzentrieren, wo sie gebraucht würde. Niemand, der Felder und Obstgärten erwärmte und die unmenschlich kurze Zeit zum Wachsen ausdehnte. Niemand, der dafür garantierte, daß Korn und Früchte vorhanden sein würden.
    Danior blickte im Übungsraum umher und bemühte sich um eine Vorstellung davon, wie viele Palasttöchter im Laufe der Jahrhunderte hier geübt haben mochten – und noch immer die Leere des Raumes unverändert gelassen hatten –und wie viele für jede einzelne gestorben waren, die lebte und sich veränderte.
    Der Raum beherbergte Gespenster. Danior schaute auf seine Hände und stellte fest, daß die Nägel wieder weiß waren. Die Stöcke und Spieße berühren, mit denen seine Schwestern trainieren mußten? All diese Geräte mit seinen Fingern anfassen, die nur von Palasttöchtern dazu benutzt worden waren, um sich auf die Probe vorzubereiten, die nur wenige überleben konnten?
    Unwillkürlich wischte er seine Finger an den Hosenbeinen ab und gab die Idee auf, die ihn hierher gebracht hatte. Er hatte die Weißmähne nicht befleckt, und er würde die Übungswerkzeuge nicht beflecken. Was würde es denn beweisen, wenn er zu den Bergen ginge und ein Raubtier tötete? Daß dort ein Tier darauf gewartet hatte, einer seiner Schwestern – Tanse, Aberra, Reyna – die Macht der Steine zu geben, und daß er es statt dessen getötet hatte.
    Danior drehte sich steif um und verließ den Übungsraum.
    In den Fluren fühlte er sich verloren. Er kam sich vor, als hätte er auch noch auf das bißchen Substanz verzichtet, das er besaß, und wäre zu nichts weiter als einem Fetzen losgelöster Gedanken geworden, die den Flur hinabjagten. Es überraschte ihn, daß er sich im Thronsaal wiederfand, wo er vor dem schwach glühenden Thron stand. Er griff nicht nach seiner Wärme. Er stand nur im Dunkeln davor, die Gedanken hallten leer durch seinen Kopf, dann zog er sich zurück.
    Hinterher erinnerte er sich nicht mehr daran, daß er die steingepflasterten Straßen und Wege entlangmarschiert war; vergaß, daß er sich gegen die Wand des Weißmähnenpferches gehockt hatte und mit dem Kopf auf den hochgezogenen Knien eingeschlafen war.
    Während er schlief, wurde sein Gesicht kalt und der Rücken steif. Er erwachte mit einem gemurmelten Protest auf den Lippen und erkannte, daß ihn jemand an den Schultern rüttelte. »Danior – Danior!«
    Er hob den Kopf. Sein Vater kniete neben ihm und rief seinen Namen. Sein Vater: so dunkel wie er, mit leichtem, aber festem Schritt und mit Augen, die manchmal in die Ferne zu blicken schienen und manchmal durchdringend nah waren. Sein Vater, der Orte gesehen hatte, von denen kein Mensch aus Brakrath auch nur etwas ahnte. In dieser Nacht traf das Mondlicht auf sein

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