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Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied

Titel: Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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Gesicht und warf Schatten in seine Augen. Danior stellte sich steif auf die Füße und versuchte, hinter die Schatten zu blicken. Er fragte sich, ob er jemals völlig hinter den verbergenden Schleier der Legende geblickt hatte. Wenn er den Schleier beiseite schieben könnte, ob sich sein Vater je so wie er gefühlt haben mochte; so voller Fehler, unsicher, allein ...
    Sein Vater stand ebenfalls auf. »Ist dir nicht kalt?«
    Danior schüttelte den Kopf und maß unwillkürlich seine Größe gegen die seines Vaters, er runzelte die Stirn. Es stellte ein schmerzliches Mißverhältnis dar, gleichzeitig nichts und doch so groß wie eine Legende zu sein. Und er wußte, er konnte nicht nach dem fragen, was er zu wissen begehrte. Es gab keine Worte für Fragen, die ihm so am Herzen lagen. Er seufzte, schaute hoch und stellte fest, daß die Nacht zur Hälfte vorüber war.
    Sein Vater mißdeutete den Blick. »Chia ist noch nicht aufgegangen. Tanse hält noch immer vom Fenster aus nach ihr Ausschau.«
    Danior biß sich auf die Lippe. Er hatte ganz vergessen, daß morgen – heute? – Tanses Gastgebertag war, das erste Frühlingserscheinen ihres Gastgebersterns Chia: Morgen würde jeder im Tal Chialieder summen und Nahrung zu sich nehmen, die am letzten Tag während Chias letztem Herbsterscheinen geerntet oder zubereitet worden waren. Eier, die aus dem Nest genommen und an diesem Tag eingepökelt worden waren, gebackenes Brot, dessen Weizenkörner an jenem Tag geerntet worden waren, getrocknete Beeren und Früchte – Danior betastete seinen Bauch und fühlte Leere: weil er nichts zu Abend gegessen hatte, weil man ihm, als er ein Kind gewesen war, keine Gastgebersteine angeboten hatte, weil sie nach allen Traditionen nie einem Mann angeboten wurden; die Traditionen berücksichtigten den Fall eines Palastsohnes nicht.
    Als wolle er Daniors Zustand noch verschlimmern, sagte sein Vater: »Die Obstgartenpfleger haben berichtet, daß du dir heute mein Halfter und die Zügel ausgeliehen hast.«
    Danior wich ihm aus; es machte ihn verlegen, daß er gesehen worden war, als er annahm, keiner sähe ihn, und er machte sich Sorgen, daß sein Vater die Sache für wichtig genug hielt, um ihn zu suchen. »Ich habe niemanden im Obstgarten gesehen.«
    Sein Vater zuckte mit den Achseln und lehnte sich gegen die Mauer des Pferches. »Macht das etwas aus? Du kannst Fürsevrin reiten, wann immer du Lust hast. Heute nacht, wenn du magst.«
    Unwillkürlich wurde Danior unter dem bohrenden Blick seines Vaters immer kleiner. Jetzt auf der Weißmähne reiten? Nahm sein Vater an, er könne derart beliebig in eine Legende eindringen – die Legende des Kennzeichnens, die Legende des Rosses, das von keinem außer seinem Meister geritten wurde, die Legende von einem unzerstörbaren Band zwischen Roß und Reiter? Wenn er die Weißmähne ritte, würde es nie aus einer reinen Laune heraus geschehen.
    »Nein«, erwiderte er beinahe trotzig. »Ich habe Fürsevrin nie angerührt, und ich werde es auch jetzt nicht tun.«
    Die Ablehnung bewirkte, daß der Blick seines Vaters schärfer wurde. Für einen Moment war sein Gesicht beinahe hart, die dunklen Augen waren deutlich unter den gebogenen Brauen zu sehen. »Dann sag mir eins: Möchtest du auf ihr reiten?«
    Die Frage bedeutete keine Aufforderung, sondern war eine peinliche, wohlüberlegte Probe. Danior zog sich instinktiv zurück. »Nein.« Trotz der Panik, die in seiner Kehle hochstieg, sprach er die einfache Silbe glatt aus.
    Doch sein Vater hörte hinter Wort und Ton. Sein Blick wurde noch schärfer, er wurde durchdringend. »Aha. Du bist also hingegangen, um sie zu reiten, hast aber dann deine Meinung geändert. Ich habe dich beobachtet. Ich nehme an, es gibt vieles, worüber du in diesem Frühling nachgedacht hast, aber ich habe nicht feststellen können, daß du eins davon in die Tat umgesetzt hast. Was wirst du tun, Danior, jetzt, da du das Alter der Wahl erreicht hast?«
    Danior fühlte, wie sein Atem flatterte. Er konnte nicht glauben, daß sein Vater diese Frage wirklich gestellt hatte – und so einfach, als wäre sie kein direkter Angriff auf den heiklen, bewachten Schutzwall seiner Intimsphäre. Was
wirst
du machen? Im Palast bleiben, abgesondert und ohne Platz? Am Rand des Lebens leben und versuchen, sich von den Traditionen, der Legende eines anderen zu nähren? Oder ein Raubtier bis zu seinem Bau jagen und das Tier die Entscheidungen über ihn treffen lassen?
    Welche Entscheidungen?
Daniors

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