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Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide

Titel: Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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Skizzenbuch auf und schlug es an der Stelle auf, wo Birnam Rauths Selbstportrait war. Sie betrachtete es und versuchte, mit seinen Augen zu sehen. Sie war hierher gekommen, um ihre Prüfung abzulegen, und er war ihr Opfer. Und Juaren hatte ihr gestern gesagt, als er ihr die wichtigsten Regeln des Spurensuchens erklärt hatte, sie müsse lernen, sich in das Denken ihres Opfers zu versetzen. Sie müsse seine Gewohnheiten studieren, seine Vorlieben, Launen und Einfälle. Denn nur so würde es ihr gelingen, seine Spur aufzunehmen und zu verfolgen.
    Gab es keine andere Möglichkeit, Birnam Rauth kennenzulernen, als seine bespielten Bänder anzuhören? Wieder strich sie über die Seide, knüpfte ihre Enden los, ließ sie durch die Finger gleiten und fand eine Antwort.
    Die Sternenseide hatte ihr am ersten Abend, den sie hier verbracht hatte, ein Gefühl von Birnam Rauths Gegenwart vermittelt. Jetzt mußte sie seine Gegenwart wieder spüren; nicht – so wurde ihr klar – indem sie methodisch seine Bänder anhörte, sondern indem sie wieder seinem Lied lauschte; indem sie sich darin treiben ließ; indem sie aus ihrem Denken heraus in seines eintrat.
    Langsam erhob sie sich und klemmte die Skizzenbücher unter den Arm. »Weshalb hörst du dir nicht die Bänder an, Verra? Du könntest mir Bescheid sagen, falls du etwas hörst, was dir wichtig erscheint. Ich ... ich muß allein sein. Ich möchte eine Weile für mich sein.«
    Sie sah Zustimmung in Verras Gesicht; und in Juarens plötzliche Verschlossenheit. Impulsiv berührte sie seinen Arm. »Ich werde nicht weit gehen«, sagte sie. »Und ich werde nicht lange bleiben.«
    Aber sie war nicht sicher, daß er sie verstehen würde, als sie sich rasch zwischen den Bäumen entfernte. Sie entdeckte eine grasbewachsene Senke in der Nähe des Baches und ließ sich dort für eine Weile nieder, mit umwölkter Stirn und unentschlossen; sie wünschte sich, umzukehren und Juaren zu erklären, daß ihr plötzliches Bedürfnis, allein zu sein, keine Abweisung bedeutete. Bestimmt würde er es verstehen. Schließlich erhob sie sich seufzend und band die Sternenseide an einen Ast.
    Sie hing schlaff und weiß im sich vertiefenden Schatten und griff nach der gelegentlichen Brise aus. Ihr wortloser Gesang erscholl in der Dämmerung, und ihre rauchige Stimme und die zunehmende Düsternis der früh hereinbrechenden Nacht legten sich auf Reyna wie eine Trance. Sie gab sich ihr ganz hin; ließ zu, von den Angelegenheiten des Tageslichts und des Wachbewußtseins fortgetrieben zu werden.
    Die Seide sang, und der Gesang war ihr eigener; wortlos; es war ein Gesang, der dieselbe Einsamkeit zum Inhalt hatte, dasselbe Verlangen und denselben gelegentlichen Zorn, der aus der Verwirrung erwuchs. Reyna sang, und während sie so sang, lauschte sie sich selbst in wortloser Losgelöstheit und bemühte sich darum, zu verstehen, was sie hörte. Denn ihre Gefühle waren denen verwandt, die Birnam Rauth bewegt hatten, und sie würden ihr helfen, ihn zu verstehen.
    Sie sang, bis der Mond aufging und die Stimme der Seide klarer wurde. Dann ließ sie ihre eigene Stimme verstummen und senkte den Blick auf ihren Schoß. Sie hielt dort die Skizzenbücher, auf dessen Einbänden ihre Finger leicht ruhten.
    Sie nickte, als hätte sie eine Anweisung erhalten, öffnete die Bücher, behielt das erste auf dem Schoß und legte das andere aufgeschlagen neben sich auf den Boden. Müßig und absichtslos begannen ihre Finger, die Seiten umzublättern.
    Die Sternenseide sang; Reyna blätterte die beiden Bände wahllos durch; dennoch kam sie immer wieder zu derselben Darstellung zurück; ein mit dunklem Moos bewachsener Baum, irgendwo im Wald, der mit seinen Aushöhlungen geheimnisvoll aussah.
    War in ihnen das Geheimnis verborgen, das Birnam Rauth herausgefordert hatte? Lag hier das Mysterium begründet, das ihn zum Gefangenen gemacht hatte? War es dieser Ort, auf den er sie hatte hinweisen wollen, damit sie hier erfuhr, was mit ihm geschehen war?
    Sie blickte auf die düstere Skizze und lauschte dem Gesang der Seide. Jetzt spürte sie, daß Birnam Rauth nahe war. Jetzt fühlte sie, wie seine Hand ihre Schulter berührte. Wozu forderte er sie auf? Verlangte er nur, daß sie ihm heute abend zuhörte? Wünschte nichts weiter, als daß sie anfing zu verstehen, so gering dieses Verstehen auch sein mochte?
    'Sie hörte zu, bis der Mond den halben Himmel überquert hatte, bis die Bäume ihn mit ihren emporgereckten Armen erreichen konnten und

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