Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
dessen aufgeschlagene Seiten mit sorgfältig ausgeführten Skizzen bedeckt waren; Eßbestecke, ein gesäubertes Servierbrett und zwei Messer mit Metallklingen; ein aufeinandergetürmter Stapel aus Seiden, deren Farben verblaßt und die längst verstummt waren; ein Krug, in dem einst Wasser gewesen sein mochte; verschiedene Kleidungsstücke, die zufällig auf dem Boden verstreut lagen; Werkzeuge, Geräte, Instrumente ... Birnam Rauth hatte ihres Vaters Sinn für Ordnung offenbar nicht geteilt.
Oder vielleicht war er Anhänger einer anderen, weniger augenfälligen Ordnung gewesen. Reyna griff sich an die Schläfen und sah sich um; plötzlich fühlte sie sich betrogen. Sie hatte Birnam Rauths Schiff gefunden, aber was hatte sie aus ihm erfahren? Daß er hier gewesen war, und daß er es nicht mehr war. Aber konnte ihr das Schiff verraten, wohin er gegangen war? Und warum er nicht zurückgekommen war, um sein gewohntes Leben wiederaufzunehmen? Oder weshalb er heute abend nicht aus dem Grasland zurückkommen würde?
Juaren und Verra standen noch bei der inneren Schleuse und beobachteten sie. In einem Anflug von Verärgerung über ihr eigenes Unvermögen ging Reyna an die Werkbank zurück und blätterte die Seiten des Bandes um, den Birnam Rauth dort offen liegengelassen hatte.
Chatni – er hatte die lose gehefteten Seiten mit Skizzen der Chatni gefüllt. Sie spähten aus ihren Nestbauten mit der für Raubtiere typischen Wachsamkeit herab, die sie in der vergangenen Nacht ebenfalls bei ihnen bemerkt hatte. Sie beschlichen kleine Waldgeschöpfe. Sie sonnten sich im Gras. Sie beleckten sich gegenseitig die Felle; sie spielten oder fütterten ihre Jungen. Birnam Rauth hatte ihre Anmut und ihr Wesen mit dem Zeichenstift eingefangen und eine gewisse Intelligenz angedeutet. Als sie seine Zeichnungen studierte, erkannte Reyna, daß ihm dies nicht gelungen war, indem er sich den Chatni gegenüber vorsichtig distanziert verhalten hatte. Seine Skizzen waren voller Details und Beschreibungen ihres Wesens. Als sie weiter in dem Band blätterte, fing sie an, einzelne Individuen auseinanderzuhalten. Fast am
Ende des Buches hatte Birnam Rauths Stift einen Geburtsvorgang festgehalten; und da wußte sie, daß er dort gewesen war, daß er persönlich Zeuge der Geburt gewesen war. Vielleicht hatte er dabei sogar assistiert.
Sie fand noch ein Selbstportrait; die gelungene Karikatur eines Mannes, der sich an der evolutionären Grenze zwischen Chatni und Mensch befand. Birnam Rauth grinste ihr vom Blatt mit scharfen weißen Zähnen entgegen, die Ohren gescheckt und leicht behaart. Reyna starrte in seine lachenden Augen, bis sie selbst lachen mußte. Dann wandte sie das Blatt um und erblickte einen Chatni, der sie mit menschlichen Augen ansah. Hier war keine Ironie, kein Lachen. Der Chatni hatte den Kopf seitlich geneigt und schien im Begriff, zu sprechen – schien eine Frage zu stellen, die niemand zu beantworten wußte.
Wessen Frage hatte Birnam Rauth in diesen Blick gelegt die des Chatni oder seine eigene? Verwirrt schloß Reyna den Band. Geistesabwesend löste sie die Enden der Sternenseide und ließ sie frei hängen. Dann drehte sie sich langsam um. Verra und Juaren sahen ihr noch immer von der Schleuse her zu, als warteten sie auf ihre Erlaubnis, Birnam Rauths privaten Bereich betreten zu dürfen.
»Auf dem Boden neben der Liege ist noch ein Skizzenbuch«, sagte Verra und deutete mit dem Kinn. »Und auf der Werkbank liegen Tonbandkapseln. Er hat eine ptachidarkische Anlage benutzt; dieselbe Aufnahmeausrüstung, die meine Mutter für ihre genealogischen Studien benutzte, als ich ein Kind war. Wenn sie noch intakt ist, kann ich dir zeigen, wie sie funktioniert.«
Reyna wandte sich verwirrt um. Ein zweiter lose gehefteter Band lag halb verborgen unter achtlos zu Boden geworfenem Bettzeug. Sie zog ihn hervor und blätterte geistesabwesend darin. Er beinhaltete Waldszenen. Kleinere Tiere. Geschöpfe der Art, von denen sie eines am Morgen angeschrien hatte; sie kletterten, fraßen oder wuschen Seiden im Fluß.
»Tonbandkapseln?« fragte sie.
»Für Tonaufzeichnung. Vermutlich hat er Notizen zu seinen Studien auf Band aufgenommen. Aber ich kann kein tragbares Bandgerät entdecken. Nur ein Wiedergabe- und das feste Aufnahmegerät. Wenn er ein tragbares Modell hatte, hat er es vielleicht bei sich getragen, als ... als er von hier fortgegangen ist.«
Zum letztenmal.
»Soll ich dir zeigen, wie man die Anlage benutzt?«
Eine geschickte
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