Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
Decken enger um sich – und erwachte mit der deutlichen Empfindung, daß sie allein war. Verra schlief noch immer in einiger Entfernung, aber Juaren hatte sein Lager verlassen. Er war fort.
Für lange Augenblicke starrte sie auf die leeren Decken neben sich und bemühte sich, die Panik zu überwinden und Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Wohin war er gegangen? Der Mond war im Untergehen begriffen, und Juaren hatte gesagt, daß er müde wäre. Weshalb hatte er sie im Glauben gewiegt, daß er schlief, und sie dann verlassen? Wenn er jetzt allein sein mußte, heute nacht, weshalb hatte er es ihr nicht gesagt, so, wie sie es ihm gesagt hatte? Fürchtete er, daß sie sich sorgte, wie er sich gesorgt hatte?
Sie setzte sich aufrecht und rieb sich die Augen. Die Sternenseide ... Sie erinnerte sich, wie konzentriert er der Sternenseide gelauscht hatte. Sie erinnerte sich daran, wie verschlossen sein Gesicht danach gewesen war. War er deshalb fortgeschlüpft? Wegen etwas, das er von der Sternenseide gehört hatte?
Wenn sie nur wüßte, was die Sternenseide ihm erzählt hatte – ihre Botschaft hatte sich von derjenigen unterschieden, die ihre eigene Seide trug. Soviel wußte sie. Falls er sie nicht mit sich genommen hatte ...
Aber er hatte. Sie ließ sich wieder auf ihr Lager fallen und krümmte die Schultern in der Kälte. Was sollte sie nur tun?
Ihn gehen lassen, wie er sie zuvor hatte gehen lassen? Ihm folgen ... wo der Mond gerade unterging und die Schatten unter den Bäumen sich vertieften? Wieder unter die Decken schlüpfen und voller Angst warten?
Dort saß sie, zusammengekauert und unentschlossen – ihre Arme wurden kalt –, bis sie sich erinnerte, daß Verra einige Sternenseiden aus dem Wrack des Handelsschiffes mitgebracht hatte. Juaren hatte eine davon an sich genommen, die übrigen zusammengefaltet und in seinem Packen verstaut. Wenn er den Packen hiergelassen hatte ... Rasch befreite sich Reyna aus den Decken und tappte über den Lagerplatz.
Juarens Packen war gestopft voll mit Vorräten; und die übrigen Seiden lagen gefaltet darauf; es waren drei Stück. Mit bebenden Händen zog Reyna sie heraus. Sie zog die Schuhe an und schlüpfte zwischen die Bäume, ließ die schlafende Verra zurück.
Der Nachtwind blies nur gelegentlich, aber sein erstes Wehen verriet ihr, daß zwei der Seiden, die sie bei sich hatte, dieselbe Botschaft wie ihre eigene trugen. Die dritte redete anders; ihr Ton war ruhiger, die Worte waren kühl, beinahe desinteressiert. Rasch faltete Reyna die ersten beiden Seiden zusammen und schlüpfte ins Lager zurück, um den Translator zu suchen. Wenn es ihr nicht gelänge, ihn zu benutzen, wenn sie nicht herausfände, was Birnam Rauth auf dieser anderen Seide festgehalten hatte ...
Aber sie fand das Übersetzungsgerät nicht. Juaren hatte seinen Packen zurückgelassen, aber den Schweber und den Translator mitgenommen.
Weshalb? Wohin war er gegangen? Bleiern und mechanisch kehrte Reyna dorthin zurück, wo die Seide hing. Sie setzte sich und wartete, bis die Brise erneut auffrischte, bis die Seide ihre unverständlichen Worte wiederholte. Und sie sang zugleich; und ihr Gesang berührte Reyna wie Birnam Rauths persönliche Gegenwart, wie es auch ihre eigene Seide getan hatte. Sie beugte den Kopf und stellte sich neben sie. Sie konnte die Worte nicht verstehen, die sie sagte. Aber sie berührten sie mit etwas Tiefergehendem, etwas Grausamerem, als die Kälte der Nacht es war. Sie berührten sie mit einer Kälte, die sie zu zermalmen drohte; ihren Körper erschauern und ihre Knochen schmerzen ließ. Denn sie riefen eine zunehmende Überzeugung in ihr hervor.
Juaren war nicht in die Dunkelheit davongeschlüpft, weil er allein sein wollte. Er war fortgegangen, weil die Seide ihn irgendwohin geführt hatte – und er hatte es vorgezogen, allein zu gehen.
Er hatte vorgezogen, allein zu gehen, weil dort Gefahr war und er geglaubt hatte, besser dagegen gewappnet zu sein, als sie es wäre.
Er war allein losgezogen, um zu erfahren, was mit Birnam Rauth geschehen war. Aber wenn Birnam Rauth gestorben war – wo mochte das gewesen sein? Im dunklen Herzen des Waldes? Inmitten der verkrüppelten Bäume? – Juaren konnte auch sterben, auch wenn er noch so leichtfüßig ging, auch wenn er noch so sorgfältig beobachtete, auch wenn er noch so angestrengt horchte.
Widerstrebend und voller Frucht stand Reyna auf. Sie konnte nicht länger zögern. Juaren war allein gegangen, und ganz gleich, wie sorgsam
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