Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
Nachtmahre, würde sie jetzt nicht spüren, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten.
Sie würde sich nicht einbilden, die Schritte geisterhafter Füße auf dem Waldboden zu vernehmen. Sie sähe keine substanzlosen Körper, die sich vor ihr in der Luft wanden und sich wieder auflösten, sobald sie nervös mit den Pfoten danach schlug. Sie schüttelte den Kopf, ärgerlich über ihre Schwäche. Die Nachtmahre könnten ihr nichts anhaben, bis sie schliefe. Und heute nacht würde sie nicht schlafen.
Noch hatte sie sich keinen Plan zurechtgelegt, wie sie vorgehen würde. Sie hatte schon einmal versucht, die rote Seide zu fangen, und war gescheitert. Jetzt, so hatte die azurblaue Seide gesagt, brach eine gefährliche Zeit an; eine Zeit, während derer die Ungesehene und ihre Leibwächter ihre verborgenen Plätze verlassen mußten. Die Leibwächter waren auf der Hut; gewappnet gegen jegliche Zudringlichkeit. Wie konnte sie die bewegliche rote Seide fangen, ohne gestochen zu werden? Ob sie wohl ihre Gedanken lesen konnte, wie die Singseiden? Würde es ihr möglich sein, sie zu überreden, ihretwegen ihre Freiheit aufzugeben?
Aber kein Sithi hatte je eine Meisterseide gehalten. Also, weshalb sollte diese sich ihr ausliefern? Falls sie sie mit ihrer Notlage beeindrucken konnte, wäre sie auch schon in ihrer Hand.
Würde es ihr in dieser Sache helfen, wenn sie die Dinge verstünde, von denen ihr die Himmelsseide erzählt hatte: daß die Meisterseide das Gedächtnis der Bewahrten trüge, das ihr direkt von deren Lebensseide übertragen worden war? Sie schlug ihre Krallen hart in den Boden. Sie verstand nichts, und sie konnte der Himmelsseide keine Fragen mehr stellen. Sie hatte sie hergegeben – wenn auch nicht beabsichtigt – für ein Junges aus dem Grasland. Es würde sie mühsame Nächte kosten, einen Rapport mit einer anderen Seide herzustellen.
Gar daran zu denken, einen Rapport mit einer Meisterseide herzustellen ... Sie schüttelte sich, ungehalten über sich selbst.
Am Bach trank sie ein wenig Wasser, dann setzte sie sich mit halbgeschlossenen Augen hin und dachte nach; und während sie überlegte, trieb sie über die unscharfe Grenze der Schläfrigkeit.
Der Wald war still. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Keine Seide sang. Es gab kein Geräusch außer dem Schlagen von Tsuukas Herz – und
das nahezu unhörbare Schlurfen von Füßen hinter ihr.
Aber als sie aufsprang und sich umdrehte – ihr Herz raste –, war nichts zu sehen. Weder ein Baumwurf, noch ein Borkenbohrer.
Auch nicht Dariim, die ihr gefolgt war.
Ihr Fell dampfte. Ihr Atem ging flach und beschleunigt. Ihre Augen schossen aufgeregt hin und her, als lebten sie unabhängig von ihr. Die Schatten ...
Die Schatten nahmen Formen an. Sie wuchsen aus den Bäumen empor und breiteten Flügel aus schwarzer Seide aus; Flügel, die sie unter sich begraben konnten;
Flügel …
Tsuuka schüttelte sich und unterdrückte ein ärgerliches Knurren. Nachtmahre; sie hatte sich erlaubt einzuschlafen, und die Nachtmahre waren über sie gekommen. Instinktiv warf sie sich in den eiskalten Fluß. Der Schock ließ sie nach Luft schnappen, ließ ihre Augen aus den Höhlen treten. Die Kälte machte sie wieder ganz wach; die schwarzen Schwingen wurden zurückgezogen und breiteten sich wie zuvor unter den Bäumen aus.
Danach brauchte sie lange, um sich wieder trockenzulecken. Währenddessen bemühte sie sich redlich, wach zu bleiben. Sie hatte in der vergangenen Nacht zu wenig geschlafen. Die Müdigkeit machte ihre Glieder schwer. Sie konnte unversehens wieder in jenen halbwachen Zustand verfallen.
Aber als der Mond aufging, stellte sie statt dessen fest, daß sie sich in einem Zustand erhöhter Wachsamkeit bewegte, als hätten sich ihre Sinne geschärft, um die Müdigkeit ihres Körpers auszugleichen. Als sie trocken war, erhob sie sich und lauschte dem entfernten Lied der Seiden. Ihr früher Morgengesang schien zwischen den Bäumen zu schimmern; hell erklangen die Stimmen. Sie stand aufrecht und spähte in die Bäume; erwartete, eine strahlende Helligkeit zu erblicken.
Aber der Wald war dunkel.
Und Zeit war vergangen, kostbare Zeit ... Tsuuka trieb sich an und ließ sich auf alle viere fallen, um schneller rennen zu können.
Ihre Sinne bebten vor Aufmerksamkeit, als sie lief. Der Waldboden war mit Gerüchen übersät. Sie bedeckten ihn wie gefallene Blätter und verwirrten ihre Nase. Hier war ein Baumwurf stehengeblieben, um zu urinieren. Hier hatte ein Bodenhuhn
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