Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
bewahrten sie vor den Nachtmahren – die nicht mehr als Gedanken darstellten, die Schatten über ihre naiven Gemüter warfen.
Aber da gab es noch mehr zu bedenken. Ihre Himmelsseide hatte sie vor Nachtmahren beschützt, aber bestimmt hatte sie dafür eine Gegenleistung erbracht. Die Fragen, die ihr die Himmelsseide jede Nacht gestellt hatte, die Erfahrungen, die sie mit all ihren Seiden austauschte ... Ihre Seiden konnten nicht laufen, konnten nicht spielen, konnten kein kühles Wasser schmecken oder frisches Fleisch; nicht aus eigenem Vermögen. Aber sie taten all diese Dinge jede Nacht, durch ihre Vermittlung, wenn sie in ihr Nest kletterte und ihre Erlebnisse des Tages mit ihnen teilte. Sie durchwanderten den Wald auf
ihren
Pfoten. Sie sahen die Bäume durch
ihre
Augen. Sie legten sich ins Gras und fühlten
ihr
Behagen dabei; fühlten die Wärme der Sonne auf
ihrem
Fell.
War das der Grund, weshalb sie im Mondschein sangen? Weil sie die Lebensfreude durch
ihre
Sinne aufnahmen? Wie sonst hätten sie diese Freude verspüren können, da sie an Pfähle gebunden waren? Wie sonst konnte die Ungesehene sie spüren, da sie sich in ihrem Knollenschacht verborgen hatte und sich für die ungeschlüpften Spinner abmühte?
Und was die Gedanken betraf, die zwischen den Seiden und der Ungesehenen hin und her gingen – wessen Gedanken waren es? Viele von ihnen waren einfache Sithigedanken, handelten von Erfahrungen der Sithis, waren aber in die wortlose Sprache übertragen, die sie allen verständlich machte; den Seiden, den Spinnern und der Ungesehenen. Was sonst hätte eine Seide der Ungesehenen zu erzählen gehabt, als das, was sie durch Vermittlung der Sithis erfahren hatten?
Als was würde sich ein Nachtmahr entpuppen, wenn ihr einer im Wachzustand begegnete? Vielleicht würde sie herausfinden, daß er aus nichts als ihren eigenen Gedanken und Erfahrungen bestand; nur übersetzt in ein anderes System von Bildern, von Vorstellungen, mit dessen Hilfe sich die Seiden und die Ungesehene untereinander verständigten.
Sacht ließ sich Tsuuka wieder auf die Füße fallen, gebannt von ihren Gedanken, und fragte sich, welchen Gewinn sie von ihnen haben mochte.
Zumindest schienen ihr die Nachtmahre weniger bedrückend, als sie ihren Gang durch die Bäume fortsetzte. Sie waren nicht mehr als Dunst in der Luft. Und sie wurde nicht länger abgelenkt durch die übermäßige Angespanntheit ihrer Sinne.
Sie ließ es nicht zu, daß diese Überlegungen sie sorglos machten, als sie sich dem Herzen des Waldes näherte. Als sie den Ort betrat, an dem die Bäume am höchsten standen, wo ihre Stämme am dicksten mit Moos bewachsen waren, bewegte sie sich bedachtsam, beobachtete und lauschte bei jedem Schritt, den sie tat.
Heute nacht herrschte eine besondere, lauernde Stille unter den höchsten der Bäume. Sie fühlte sie sogleich und spürte ihr Lasten beinahe körperlich. Und – ja, es waren Nachtmahre hier; schattenhafte Gedanken, die schlummernden Schwingen gleich unter den Bäumen ausgebreitet lagen. Sie waren hier konzentriert, vermutete sie, denn dies war das Reich der Ungesehenen. Dies war das Herz des Waldes.
Aber viele davon sind meine Gedanken,
erinnerte sie sich.
Viele davon sind meine eigenen Gedanken und die Gedanken anderer Sithis, die ich kenne. Es sind die Erlebnisse unserer Tage. Die Seiden haben sie in eine andere Form gebracht und sie hier der Ungesehenen gewidmet, so daß sie fähig ist, alle Vorgänge des Waldes
zu
verstehen, damit sie die Spinner besser anweisen kann, wie sie füttern
und spinnen müssen.
Aber Tsuuka wußte, daß auch fremdartige Gedanken darunter sein mußten – Gedanken, die nicht von Sithiherkunft waren –, Gedanken nämlich, die von der Ungesehenen stammten und an die Spinner und Seiden gerichtet waren. Und noch immer konnte sich Tsuuka kein Bild von der wahren Beschaffenheit der Ungesehenen machen. Ein ganzes Leben lang in der modrigen Höhlung eines Baumes tätig zu sein, niemals das Licht der Sonne zu erblicken, niemals die
Brise zu spüren ...
Jedoch, welchen Harm konnten die Gedanken der Ungesehenen ihr antun? Sie nahm eine unerläßliche Funktion im Schema ihres wechselseitigen Lebens wahr. Sie war eine Jägerin, Beschützerin der Spinner, Meisterin über Seiden. Hier würde es keine Gedanken geben, die ihr übel gesonnen waren – nur solche, die ihr von der Form her fremd waren.
Wenn sie ihre Gedanken direkt an die Ungesehene richten und sie darum bitten könnte, die rote Seide
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