Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
hatte, in den dichten Wald zu gehen, und etwas zu erblicken versucht hatte, von dem ihm seine Sithi-Gefährtin und ihre Seide gesagt hatten, daß man es nie zu Gesicht bekommen durfte.
Etwas Verletzliches. Etwas Gefährliches. Etwas Weises die Ungesehene, nannte Birnam Rauth es -, das nur zweimal in dem einen Jahr das Tageslicht zu Gesicht bekam, das sein Leben währte: einmal, wenn es den Weg von dem Baum machte, in dem es ausgebrütet worden war - zu dem Baum zurücklegte, in dem es seine Lebensarbeit verrichtete -, und später, wenn es sich von diesem Baum fortbegab, um seine Lebensseide zu spinnen und zu sterben.
Es gab Lebensseiden, Meisterseiden, Singseiden; Spinner, Leibwächter, die Ungesehene und die Bewahrten; und alle gehörten zu ein und derselben Gattung. Aber die Bewahrten waren nicht mehr als die lebendigen Willenskräfte der Kreaturen, deren Bewußtsein in der Lebensseide deponiert war. Und es waren zahllose Lebensseiden im Wald verborgen; so viele, wie Jahre vergangen waren seit Beginn ihrer Ära. Einige waren längst vergessen, ihre Fasern mit Holzfasern jener Bäume verwachsen, in denen sie sich verborgen hielten. Einige waren in den Boden geschlüpft und hatten sich in einzelne Fäden aufgelöst. Andere waren frischer, neuer, und sie wurden noch gebraucht, um den Singseiden durch Vermittlung der Meisterseiden Bewußtsein zu verleihen.
Nein, sie glaubte nichts davon. Aber als Birnam Rauths Darstellung abrupt und mitten im Wort endete und sich zu wiederholen begann, sah Reyna auf und glaubte, zarte Seiden zu erblicken, die von den weißstämmigen Bäumen wirbelten. Sie schüttelte heftig den Kopf, um sich von diesem Eindruck zu befreien, und machte sich mit tauben Fingern daran, die Stöpsel aus ihren Ohren zu entfernen.
»Er ist hier. Versteckt. In einem der Bäume«, sagte sie unwillkürlich. Aber konnte man behaupten, daß Birnam Rauth lebte? War
Leben
eine zutreffende Bezeichnung für seinen Zustand? Birnam Rauth hatte möglicherweise selbst erraten, was geschehen war. Die Ungesehene hatte ihn studiert - sein Denken, seine Vorstellungen, die Vorgänge in seinem Körper - mittels der Sithis und der Seiden. Und sie hatte in ihm eine Einzigartigkeit vorgefunden, die kostbar, staunenswert und bedrohlich war, alles zugleich; eine Herausforderung für ihre angeborene Weisheit. Als er also in den tiefen Wald gekommen war; als er in diese äußerst streng gehaltene Unantastbarkeit eingedrungen war; als er versucht hatte, zu erblicken, was nicht erblickt werden durfte - da hatte sie ihre Leibwächter angewiesen, ihn zu ergreifen. Er hatte keine Erinnerung daran, wie es vor sich gegangen war; er glaubte, sogar mehr als vorsichtig gewesen zu sein. Aber die Leibwächter hatten ihn ergriffen - und die Ungesehene, die ihn nicht zerstören wollte, hatte sein Bewußtsein und seinen Willen in eine Lebensseide eingesponnen.
Sie hatte ihn nicht getötet. Nicht aus ihrer Sicht. Denn ihre Weisheit unterschied sich erheblich von menschlicher Weisheit. Sie hatte ihn einfach bewahrt und geborgen, damit ihre Nachfolgerinnen ihn studieren und versuchen konnten, ihn zu verstehen. Sie und ihre Art waren verwundbar; und die Verwundbarkeit förderte ihr Bedürfnis nach Geheimhaltung und Sicherheitsmaßnahmen. Falls es noch mehr Fälle von der Art wie Birnam Rauth gab, mußten sie so behandelt werden, daß man sich mit ihnen befassen konnte.
»Er ist hier«, wiederholte Reyna. »Hier irgendwo.«
»Ja«, stimmte Juaren zu. »Als wir heute über den Wald geflogen sind, ist mir eine Stelle aufgefallen, wo die Bäume höher und älter waren. Er nannte es das Herz des Waldes. Es ist der Ort, an dem der Wald lebt. Dort befindet er sich.«
Und jetzt waren sie in der Nähe dieses Ortes. Als Reyna die Augen schloß, konnte sie es schlagen hören, das Herz des Waldes. Sie konnte den Rhythmus in ihrem Gebein spüren. Für einen Moment kam ihr -ein feiger Gedanke: Wir wissen jetzt, was ihm widerfahren ist – wir können umkehren.
Aber das konnten sie natürlich nicht. Irgendwo war eine Seide, die das beinhaltete, was von Birnam Rauths Bewußtsein übriggeblieben war. Sie konnten nicht umkehren, bis sie sie gefunden hatten. Langsam stand sie auf und löste Juarens Sternenseide vom Baum. »Weißt du, wo das Herz des Waldes zu finden ist?«
»Wir sind auf dem richtigen Weg. Sieh nur ... du kannst erkennen, daß die Bäume hier älter sind als diejenigen, die neben dem Fluß standen.«
Reyna blickte sich um; sah, daß diese
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