Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
Unbehagen abschütteln könnte, das sie empfand, seit sie von den Eindringlingen fortgegangen waren ...
Das Unbehagen ließ sich nicht abschütteln. Es erzwang erneut ihre Aufmerksamkeit; nahm diesmal nachdrücklichere Gestalt an. Die Eindringlinge waren auf dem Weg ins Herz des Waldes – dorthin, wo die Ungesehene lebte – die Ungesehene, die aus verwundbarem Fleisch bestand – die Ungesehene, ohne die es keine Spinner gäbe und keine Seiden in diesem Teil des Waldes. Tsuukas Hand schloß sich um ihre Himmelsseide; sie war so kühl, so glatt. Ob die Eindringlinge wohl wußten, daß die Ungesehene verletzlich war? Daß sie nicht verletzt werden durfte? Oder gingen sie dorthin, um sie mit ihrem angespitzten Stock und dem polierten Zahn zu jagen?
Die Kühle ließ Tsuukas Muskeln steif werden. Sie hatte sich gefragt, auf welche Beute die Eindringlinge mit ihren stumpfen Zähnen und Krallen aus sein mochten. Wenn die Ungesehene so verletzbar war, wie Tsuuka befürchtete ... Und wer vermochte zu sagen, ob die Stacheln der Leibwächter eine wirksame Waffe gegen die Eindringlinge waren? Tsuuka erschauerte, als sie zu Dariim hochsah, die schon den Baum hinaufkletterte. Sie verlangte danach, die Eindringlinge zu verfolgen; verlangte danach, sich davon zu überzeugen, was sie vorhatten.
Bestimmt hatte sie noch Zeit genug abzuwarten, bis ihr Junges schlief. Bestimmt ...
Aber es war überhaupt keine Zeit mehr. Denn als Tsuuka widerstrebend ihre Krallen in die Rinde hieb, erklang ein gedämpfter, aber feuriger Gesang aus der Richtung, die die Eindringlinge eingeschlagen hatten. Tsuuka erstarrte, als sie ihn sofort erkannte, obwohl er so weit weg war. Es war der Gesang der roten Seide. Alarmiert blickte sie hoch und sah, wie Tsuuka mit gebleckten Zähnen in die Dunkelheit starrte. Dann flitzte Dariims Körper ohne Vorwarnung an ihr vorbei in Richtung Boden.
Ihre eigene Reaktion war beinahe ebenso schnell. Die rote Seide war aus ihrem Versteck gekommen. Sie sang erneut ihr spöttisches Lied, und Dariim raste ihm entgegen; hielt nicht einmal inne, um sich umzuschauen. Tsuuka rutschte ebenfalls zu Boden, ließ sich auf alle viere fallen und raste hinter Dariim her.
Die rote Seide, die Ungesehene, die Eindringlinge; Tsuukas Herz hämmerte gegen den Käfig ihrer Rippen; ihr Blut pochte in einem irrsinnigen Rhythmus. Sie wußte nicht, wozu sie ihre Krallen im Laufe der Nacht brauchen würde. Sie wußte nicht, wen sie mit ihnen verteidigen mußte; die Ungesehene, ihr Junges oder sich selbst. Aber der zitternde Schlag ihres Herzens und die bedrohliche Kurzatmigkeit verrieten ihr, daß sie es bald erfahren würde.
15 Reyna
In dieser Nacht war es leichter, Juaren zu finden, als es heute morgen gewesen war. Im finsteren Wald war es leichter, als es im Tageslicht gewesen war. Nicht weil Reyna soviel fachkundiger im Spurenfinden geworden wäre; sie stolperte beinahe blind zwischen den Bäumen umher, mehr vom Instinkt geleitet als von den Stiefelabdrücken, die sie gelegentlich auf dem Boden fand. Sondern weil sie ohne Rücksicht auf den Lärm, den sie dabei veranstaltete, umhertappte und keinen Hehl aus der Tatsache machte, daß sie sich verirrt hatte; sie bat ihn, auf sie zu hören und umzukehren. Sie stolperte über eine hochliegende Wurzel, sie prasselte durch ein dichtes Gestrüpp, sie kletterte über einen umgestürzten Baum – und da stand Juaren auf einer kleinen Anhöhe, war so still wie das Mondlicht und sah auf sie hinab.
Sie blieb stehen und sog bei dem Ausdruck in seinen Augen erschrocken die Luft ein. War es Unwillen? Ärger über ihr Auftauchen? Oder etwas anderes ... Bestürzung? Sicher war er nicht erfreut, sie hier zu sehen. Für den Augenblick konnte sie nichts sagen.
»Du hast vergessen, mir zu sagen, wohin du gehen würdest«, brachte sie schließlich hervor. »Ich habe etwas gehört. Ich bin wachgeworden, und du warst fort.«
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, aber nur, um noch maskenhafter zu werden. »Ich dachte, daß du müde wärst. Ich dachte, du hättest den Schlaf nötig.«
»Nein«, sagte sie verwirrt durch den Gegensatz zwischen seiner Rede und seinem Aussehen; die eine fürsorglich, das andere verschlossen. »Du hast
gewartet,
bis ich eingeschlafen war. Dann bist du fortgeschlüpft. Weil du allein gehen wolltest.«
Juaren seufzte tief auf, seine Hände schlossen sich um die Gelenke, und sein Gesicht änderte sich aufs neue; die Maske fiel und legte die Fürsorge dahinter frei.
»Ich
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