Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
Bäume älter, größer und dunkler waren, und fragte sich, ob sie wohl Lebensseiden beherbergten. Einige der Bäume hatten klaffende Öffnungen, einige trugen verheilte Wunden, ein paar waren abgestorben und kahl. Aber waren sie auch leer? Sie erschauerte, als sie an die Leibwächter dachte; die stachelbewehrten Spinner, die Birnam Rauth beschrieben hatte. Sie erinnerte sich, was sie mit allzu neugierigen Lebewesen anstellen konnten. Woran konnten sie erkennen, welche Bäume sie untersuchen konnten, und welche sie meiden mußten? »Wenn du erst schlafen willst, kannst du morgen wieder herkommen ...«, sagte Juaren.
»Nein!« Wenn sie jetzt fortginge, wie sollte sie dann morgen den Mut aufbringen wiederzukommen? »Welche Richtung müssen wir einschlagen? Wie kommen wir zu diesen ältesten Bäumen?«
»Hier entlang.«
Sie folgte ihm, wobei sie sich bemühte, so leicht wie er aufzutreten; sie versuchte, so zu gehen, als wäre der Grund unter ihren Füßen lebendig und könnte ihre Schritte spüren. Der Mond war untergegangen und hatte den Wald dunkel werden lassen, mit Ausnahme eines schwachen Funkelns von entferntem Sonnenschein. Reyna erblickte es von Zeit zu Zeit zwischen den Zweigen, wenn sie aufsah.
Die Bäume auf ihrem Weg wurden zusehends älter. Sie ersah es aus ihrem Umfang und an der Dicke ihrer Rinden. Moos und Pilzgeflecht bedeckten ihre dicken Stämme. Ihr spärliches Blattwerk hing an Ästen, die sich dünn gegen den Himmel abzeichneten, und unten an ihren Stämmen befanden sich durch abgerissene Zweige verursachte Wunden.
Sie machten eine kurze Rast und unterhielten sich. Als sie weitergingen, fühlte Reyna die Gegenwart von Leben in den Bäumen; Leben, das zugleich verletzlich und zeitlos war. Die mit dunklem Moos bewachsenen Stämme, der Boden unter ihren Füßen – alles schien mit lebendigem Geflecht durchzogen zu sein; mit Geflecht, das aus einer Zeit stammte, die so lange zurücklag, daß ihre Vorstellung davor versagte. Sie konnte beinahe stumme Gesänge in der Luft hören. Sie konnte beinahe hören ...
Aber das Rascheln im Gebüsch stammte nicht aus der fernen Vergangenheit. Reyna ergriff Juarens Arm, und beide starrten sie dorthin, wo das Geräusch hergekommen war.
Zwei Sithis traten aus dem Schatten; eine ältere und eine junge, die nicht größer oder schwerer war als Reyna. Reyna starrte verwundert auf die Ankömmlinge. Sie hatte nicht im Traum daran gedacht, daß ihnen heute nacht Sithis begegnen würden. Sie war zu sehr mit anderen Problemen beschäftigt gewesen. Voller Furcht sah sie, daß die Erwachsene ihre Krallen entblößt hatte, obgleich sie keine Anstalten machte, sie zu benutzen. Die jüngere Sithi hielt sich hinter der älteren – halb zusammengekauert –, und nach dem Glimmen in ihren Augen zu urteilen, war sie sowohl eingeschüchtert als auch aufgeregt. Reyna starrte fasziniert auf die scharfen Zähne des Geschöpfes und das anmutige Spiel seiner Muskeln unter dem kastanienfarbenen Fell.
Sie hatte keine Zeit, sich zu fragen, was sie vorhatten. Die ältere Sithi trat vor. Konnte es diejenige sein, der sie am vergangenen Abend begegnet waren und der sie das Junge aus dem Grasland übergeben hatten? Sie schien sie jedenfalls zu erkennen. Und sie redete in der zischenden, knurrenden Sprache, die Reyna auch Birnam Rauth zu sprechen versuchen gehört hatte.
Sie redete, aber was sagte sie? Der Blick aus den gelben Augen der Sithi war auf die blaue Seide gerichtet, die Reyna um die Taille gebunden trug. Sie feuchtete hastig die Lippen an, ihre Ohren standen aufrecht. Ihre Stirn lag in tiefen Falten und ließ ihren Gesichtsausdruck fast komisch wirken.
Ob sie die Seide haben wollte? Ob sie bedauerte, sie im Austausch hergegeben zu haben? Als ihr einfiel, wie traurig das Lied der Seide geklungen hatte, war Reyna sich beinahe sicher, daß es so sein mußte. Rasch band sie die Seide los und bot sie dar.
Sofort wußte sie, daß sie richtig vermutet hatte. Die Pupillen der erwachsenen Sithi weiteten sich schimmernd, und sie redete sanft auf die jüngere ein. Das Junge machte einen einzigen, zögernden Schritt nach vorn – schnappte sich die Seide und sprang zurück. Die ältere Sithi nahm die Seide von ihm entgegen, berührte sie fast ehrfurchtsvoll und sprach wieder; leise und sanft.
»Du hast mir deine Seide gegeben, und sie dann vermißt«, sagte Reyna; und sie wußte, daß es so gewesen war – und sie wußte, daß die Sithi ihre Worte unmöglich verstehen konnte. Da nahm
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