Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
kraftvolle Worte; Worte, die sie erbeben ließen. Sie mußte mit ihm gehen, wegen all der Gründe, die sie ihm aufgezählt hatte. Aber sie wußte, daß sie sich nicht so unauffällig bewegen konnte wie er. Sie wußte, daß ihre Reaktionen nicht so rasch waren wie seine. Sie wußte, daß sie ihn im falschen Augenblick ablenken konnte. Sie wußte, daß sie sein Leben in Gefahr bringen konnte; daß es möglicherweise ungefährlicher wäre, wenn er allein ginge.
Aber sie war nicht hergekommen, um im Bett zu liegen und abzuwarten. »Dort ist ein Baum ... ein hohler Baum ...«, fing sie an.
Juarens Augen blitzten auf. Seine Hand fuhr zu der Seide um seine Taille. Rauh fragte er: »Woher weißt du das?« »Birnam Rauth ist mein Verwandter«, erwiderte sie. »Ich erriet es, indem ich seiner Seide lauschte.«
Seine Augen verengten sich. »Nein. Ich habe die Botschaft gehört, die deine Seide trägt ...«
»Ich erriet es aus dem Lied ... und durch etwas, das ich in einem der Skizzenbücher sah.« Und von Birnam Rauth selbst, der im Dunkeln bei ihrer Schulter stand. Konnte sie das Juaren erzählen? »Dort hat er einen bestimmten Baum mehrmals skizziert. Er ... er hat ihn angezogen.«
»Ja«, sagte er zögernd und wartete, daß sie fortfuhr. Aber sie wußte nichts mehr zu sagen. »Laß mich die Seide anhören«, sagte sie.
Seine Hände berührten die Sternenseide beinahe, als wollte er sie beschützen. Er starrte auf den Waldboden, dann sah er auf, begegnete ihrem Blick und weigerte sich, ihn wieder freizugeben. »Reyna, es gab Gelegenheiten, zu denen Komas allein in die Eishöhlen ging und ich draußen wartete. Das war mein Anteil an der Jagd: mich bereit zu halten für den Fall, daß er über einen Breeterlik stolperte, daß er Hilfe brauchte oder Verletzungen erlitt, die behandelt werden mußten.«
Sie ergriff seinen Arm und drückte ihn; beinahe zärtlich. »Ich werde nicht draußen warten, Juaren.«
Seine Lippen wurden schmal. Wieder sah er auf den Boden und zog mit dem Fuß ein Zeichen. Endlich sagte er: »Ich werde dir beibringen, wie man den Translator benutzt.«
Er trug ihn um die Taille bei sich, unter der Sternenseide verborgen. Er band die Sternenseide an einen Baum und nötigte Reyna, sich zu setzen, den Übersetzer auf den Schoß zu nehmen und die Stöpsel in die Ohren zu stecken. Als die Brise sich in der Seide fing – ihre losen Enden flatterten, hörte sie eine geschlechtslose Stimme in den Ohren.
»... jetzt deutlicher. Ich war anfangs durcheinander, aber jetzt fange ich an, mich wieder an Einzelheiten zu erinnern. Ich beginne, mich zu erinnern, weshalb ich hier hergegangen bin. Oder hergekommen bin. Es ist schwer zu glauben, daß ich an einem physischen Ort bin, den man auf einer Karte des Waldes ankreuzen könnte. Ich habe kein körperliches Gefühl, und ich glaube, ich kenne den Grund dafür. Aber ich habe immer noch meine Gedanken, und wenn ich richtig verstehe, was geschehen ist, werden einige von ihnen aufgezeichnet, in irgendeiner Form. Mag sein, daß sie eines Tages jemand hört, jemand, der sie entziffern kann; jemand, der sich für das interessiert, was ich hier gefunden habe.
Es ist nicht einzigartig, vermute ich. Ich kann Parallelen zu anderen Lebensformen aufweisen. Aber diese Art ist meine persönliche Entdeckung, und es macht mich ein wenig stolz, der erste zu sein; insbesondere, wenn ich bedenke, daß ich keine weiteren Entdeckungen mehr machen werde.«
Reyna bewegte sich unruhig; betroffen vom leidenschaftslosen Gebrauch der Worte, betroffen auch von der methodischen Art, wie er seine Beobachtungen festgehalten hatte, so daß sie ihr verständlich waren.
Sie konnte sie verstehen; aber sie vermochte sie nicht zu glauben. Nicht sogleich; und nicht, während sie im dunklen Wald zuhörte. Sithis: das war der Name, den Birnam Rauth den Chatni gegeben hatte. Und die Einzelheiten, die Birnam Rauth so sorgfältig mit Hilfe der Sithis gesammelt hatte; mit Hilfe der Seiden, mit denen sie Gedanken austauschten; und durch Beobachtung ... Sie fand es schwer zu glauben, daß die Seiden, die so beredt in den Bäumen sangen, von jenen plappernden Geschöpfen gesponnen werden sollten, die sie und Juaren heute morgen beim Fressen beobachtet hatten. Sie fand es schwer zu glauben, daß die Singseiden zumindest einen Teil ihres Bewußtseins von anderen Lebewesen bezogen hatten, die schon seit Jahren oder Jahrzehnten tot waren; den Bewahrten. Sie fand es schwer zu glauben, daß Birnam Rauth es gewagt
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