Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
Gedanken und wußte, daß sie ihn nie ausführen würde. Sie war schon bekümmert, daß sie überhaupt daran gedacht hatte.
Sie war zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, um die Sithi kommen zu hören. Sie nahm sie nicht einmal wahr, als ihr Schatten auf ihre Füße fiel. Als die Sithi sie am Arm berührte und sanft ihre Finger um ihn schloß, erschrak Reyna heftig und stieß einen halberstickten Schrei aus.
Sie wirbelte herum und starrte in das mit glattem Fell bewachsene Gesicht; erwartet, gebleckte Zähne zu sehen, und erblickte statt dessen etwas, was sie zuerst nicht zu glauben vermochte: Verständnis.
Das verblüffte sie mehr als Feindseligkeit und Aggression.
Die Sithi sah, was geschehen war, und verstand, was Reyna fühlte. Sie verstand, daß Juaren gefangen war, und daß sie bekümmert war und wütend und hilflos; vollständig hilflos.
Reyna erschauerte und versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bekommen. Wie war es denn möglich, daß die Sithi diese Dinge verstand? Enthielt ihre Unähnlichkeit eine grundsätzliche Gleichheit? Waren sie von ähnlicherer Art, als sie vermutet hatte?
Es gab Dinge, die sie und Juaren ebenso verstanden hatten. Sie hatten begriffen, daß das Sithijunge die rote Seide haben wollte. Sie hatten die Gefährlichkeit seines Vorhabens begriffen. Sie hatten die hilflose Qual der älteren Sithi begriffen. Wenn sie all diese Dinge nicht verstanden hätten, wäre Juaren jetzt frei.
Ob die Sithi auch das begriff? Das Geschöpf hatte ihren Arm losgelassen. Behutsam streichelte es die Sternenseide. Seine Brauen waren zusammengezogen, als wollte es ihr eine Frage stellen.
Reyna fuhr sich mit dem Handrücken übers Gesicht; sie hatte keine Ahnung, wie sie die unausgesprochene Frage beantworten sollte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie zu diesem Geschöpf reden sollte, das ihre Hilflosigkeit mit offensichtlichem Mitgefühl beobachtete.
Außer vielleicht in Form eines Liedes. War das etwa ein so dummer Einfall? Reyna wußte durch Birnam Rauth, daß die Sithi einen gewissen wortlosen Gedankenaustausch mit den Seiden pflegten. Wenn sie wie eine Seide sänge; ihr eigenes Lied ... Was blieb ihr sonst zu tun? Sie hatte keine Alternativen.
Bebend hielt Reyna wieder die Sternenseide in den Wind. Als sie anfing zu singen, sang sie mit ihr, aber laut, wie sie es vorher nie getan hatte. Sie sang von all den Dingen, von denen sie sich wünschte, daß die Sithi sie verstünde. Sie sang von ihrer eigenen Welt, in deren Wäldern es Geheimnisse gab, die sich von den hiesigen unterschieden. Sie sang von den Menschen, für die sie etwas empfunden hatte, und von dem Land, das sie liebte. Sie sang von der Sonne, die vom Thron ihrer Mutter strahlte. Sie sang von den Bergen, in die sie mit Juaren zu gehen beabsichtigt hatte. Sie sang von den Geschichten, die er nicht niederschreiben konnte, wenn er hier starb; von den Kindern, denen er nicht Vater, und von den Lehrlingen, denen er nicht Ausbilder sein konnte. Sie sang vom Kummer des Versagens – in ihrer Bewährung für den Thron, in ihrer Prüfung, in ihrer Aufgabe, Juaren vom Tod zu erretten.
Sie sang auch Versprechen. Gelöbnisse und Eide, die mehr der Ungesehenen galten als den Sithis. Sie gelobte, daß sie nicht länger nach Birnam Rauth suchen wollte, wenn es Juaren erlaubt sein würde, frei zu sein. Daß sie fortgehen und sein einsames Lied vergessen würden. Daß sie das Herz des Waldes verlassen und niemals versuchen würden zu schauen, was nicht gesehen werden durfte, wenn man Juaren freiließe. Daß sie mit dem Schiff auf ihre eigene Welt zurückkehren würden.
Sie sang schmerzliche Versprechen. Versprechen, die wie Feuer brannten, als sie sie in Worte kleidete. Denn sie wußte, daß Birnam Rauths Lied sie für immer quälen würde, wenn Juaren befreit und ihnen erlaubt würde abzuziehen. Sie mochte die Sternenseide zusammenfalten und im abgelegensten Winkel des Palastes verstecken. Sie mochte sie vergraben oder verbrennen; sie würde noch immer ihr Lied vernehmen. Alle Tage ihres Lebens.
Dennoch gab sie Birnam Rauth für Juaren hin. Sie bot an, ihn für immer begraben sein zu lassen, wenn Juaren frei würde. Und sie wußte nicht einmal, ob ihr Lied einen Effekt haben würde. Sie wußte nicht, ob die Sithi es verstand. Sie wußte nicht, ob die Ungesehene es überhaupt hörte.
Diese Dinge waren der vordergründige Inhalt der Strophen ihres Liedes. Aber ihr Lied hatte noch eine weitere Ebene der Bedeutung; eine tiefere Ebene. Ihr Lied sprach
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