Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
zu sein; mit gesenktem Kopf und schlaff hängenden Armen. All dies geschah mit Juaren, während Reyna hilflos zusah.
Und als es vollbracht war – als Juaren bewegungsunfähig verschnürt war –, erstarb der schrille Chor der Leibwächter. Unvermittelt war das Herz des Waldes wieder still, während sich viele Dutzend geistloser Augenpaare Reyna zuwandten. Sie starrte ihnen entgegen. Ihre Hände hatten sich derart fest zu Fäusten geballt, daß es schmerzte. Ihr Mund war so trocken wie Pergament. Ihr Atem kam in schmerzenden Stößen, als bänden die Seidentaue auch sie. Aber die Leibwächter machten keine Bewegung auf sie zu. Sie standen dort, ihre winzigen Hände zu Fäusten geballt, ohne mit den Augen zu zwinkern.
Als wären sie angewiesen worden, sie zu beobachten. Als wären sie angewiesen worden, ihr Bild aufzunehmen. Reyna leckte sich erfolglos die Lippen. Ihre Zunge war ebenfalls trocken wie Baumwolle. Die Ungesehene – Birnam Rauth hatte gesagt, die Ungesehene steuere die Aktivitäten der Spinner, und in einem gewissen Maße auch die der Leibwächter. Jetzt hatte sie ihnen eben aus unerfindlichen Gründen aufgetragen, Reyna zu beobachten und ihre Bewegungen zu registrieren.
Reyna lachte halb hysterisch und völlig unmotiviert. Was mochte die Ungesehene durch all diese Augen erblicken, die niemals blinzelten? Eine merkwürdige und eingeschüchterte Kreatur mit wilder Verzweiflung im Blick? Oder einfach ein Geschöpf, das so fremdartig war, daß die Ungesehene seinem Gesicht und seiner Haltung nichts entnehmen konnte? Nichts als eine für den Augenblick gebannte Gefahr.
Reyna erschauerte und bemühte sich um die Kontrolle über ihren Körper. Sie konnte sich jetzt keine Hysterie leisten. Juaren war hilflos. Sie war die einzige, die ihm helfen konnte. Aber als sie versuchte, sich auszudenken, was sie tun mußte, was sie mit Erfolg tun
konnte,
fiel ihr nichts ein. Versuchsweise machte sie einen Schritt nach vorn und griff nach dem Spieß aus, den Juaren hatte fallen lassen.
Die Leibwächter reagierten sofort, duckten sich und kreischten auf, ihre Stacheln wedelten. Reyna sog scharf die Luft ein und trat unwillkürlich wieder einen Schritt zurück. Offenbar war es ihr nicht gestattet, den Spieß aufzunehmen. Und was hätte sie auch tun können, wenn sie ihn ergriffen hätte? Juaren hatte er jedenfalls nicht geholfen. Er hatte den Spieß geschwungen, und jetzt hing er hilflos im Baum.
Reyna schloß kurz die Augen, preßte die zitternden Finger gegen die Schläfen und versuchte gewaltsam, ihrem Hirn einen Gedanken zu entlocken. Sie wagte nicht einmal mehr, einen einzigen Schritt vorwärts zu machen. Und sie wagte nicht, ihren Schweber zu benutzen und sich zu dem Baum tragen zu lassen, in dem Juaren in seidenen Fesseln hing. Denn wenn die Leibwächter ihr lähmendes Gespinst auch
noch auf sie ausstießen – wenn sie so hilflos wie Juaren würde –, dann wäre ihnen beiden nicht geholfen.
Sollte sie zurück zum Fluß gehen und Verra wecken? Sie preßte ihre Schläfen fester, als sie sich fragte, was Verra tun konnte. Und was wäre, wenn sie zum Fluß zurücklief, um Verra zu holen, und zurückkäme, um feststellen zu müssen, daß man Juaren während ihrer Abwesenheit in ein Versteck gebracht hatte; wenn man ihn aus ihrer Reichweite in einen hohlen Baum verschleppt hatte?
Es gab Dutzende von Leibwächtern, die groß genug waren, um ihn zu tragen. Dutzende, die groß genug waren, um ihn zu verbergen, während die Ungesehene mit ihm anstellen konnte, was sie wollte. Würde sie eine Lebensseide spinnen, die seine Gedanken aufnahm, wie sie es bei Birnam Rauth gemacht hatte? War sie an ihm interessiert? Würde sie ihn kostbar und wert genug finden, bewahrt zu werden? Reyna erschauerte heftig, und sie fragte sich, was aus Birnam Rauths Körper geworden sein mochte. War er allmählich in einem klebrigen Netz aus Seidenfäden verendet, nachdem die Ungesehene seine Lebensseide gesponnen hatte? War es ihm beschieden gewesen zu verhungern, ohne Bewußtsein und hilflos?
Sie war im Begriff, Juaren zu verraten. Sie war im Begriff ihn auf dieselbe Weise zu verraten, wie er glaubte, seine Mutter und seinen Gildenmeister verraten zu haben. Sie war im Begriff, hilflos dabeizustehen, während er starb. Diese Erkenntnis war wie ein heftiger Schlag. Sie benahm ihr den Atem. Sie hinterließ sie in Tränen und betäubt.
Die geisterlosen Augen starrten unverändert auf sie hinab.
Die Ungesehene – die Ungesehene beobachtete
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