Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
sie durch die Augen der Leibwächter.
Diese Gewißheit kam ihr allmählich, ließ sie frösteln, machte sie verrückt vor hilflosem Zorn. Sie hob den Kopf und blickte auf zu den kleinen Geschöpfen, die in den Bäumen verteilt waren.
Was erwartest du zu sehen?
verlangte sie wortlos und nachdrücklich zu wissen.
Was erwartest du, daß ich tue? Einfach fortgehen? Hast du denn nichts von Birnam Rauth gelernt? Hast du von ihm nichts über uns gelernt? Hast du nicht gelernt, daß wir uns um unsere Körper sorgen; auch um die der anderen?
Aber wie konnte sie ihren Ärger auf etwas lenken, das sie nicht zu erblicken vermochte? Auf etwas, dessen Beschaffenheit und Größe sie sich nicht einmal vorstellen konnte? Die Ungesehene war hier, irgendwo in der Nähe versteckt. Ruhig und gelassen beobachtete sie durch Dutzende von Augenpaaren. Ob ihr Herz – falls sie eines hatte – in der gleichen Angst schlug wie Reynas? War sie überhaupt für Furcht anfällig? Wie stellte sich ihr diese Begegnung dar?
Es mußte für sie so aussehen, daß merkwürdige Geschöpfe in das höchst verletzliche Zentrum ihres Allerheiligsten eingedrungen waren. Ihr mußte es so vorkommen, als bedrohe ihr Eindringen nicht nur sie, sondern das ganze Netz des Lebens, das von ihr abhängig war. Es mußte ihr scheinen, als hätte sie nur die Wahl, diese Kreaturen zu zerstören – oder zu riskieren, daß sie selbst zerstört wurde; mitsamt all ihren Nachkommen und ihrer ganzen Spezies.
Aber wir sind nicht deshalb hergekommen,
versicherte Reyna zu ihrer eigenen Überraschung wortlos, als ob die Ungesehene ihre Gedanken hören könnte; als ob sie sie verstehen könnte. Wir
sind nicht gekommen, um dich
zu
verletzen. Laß meinen Gefährten frei, und wir verschwinden. Wir gehen sogleich.
Aus den Bäumen kam kein Zeichen, daß sie verstanden worden war. Die Leibwächter fuhren fort, auf sie hinabzustarren. Sie kauerten dort, als hätten sie sich auf eine lange Wache eingerichtet.
Welche Funktion außer dieser Wache hätten sie auch sonst wahrnehmen können? Ihre einzige Aufgabe war, die Ungesehene zu bewachen.
Laß meinen Gefährten frei, und wir werden niemandem je von diesem Ort erzählen. Wir werden niemandem je berichten, daß du hier lebst.
Dumm – es war dumm und unsinnig, zu diesem Geschöpf zu reden zu versuchen, das sie nicht sehen konnte; zu einer Kreatur, über deren Natur sie nichts wußte. Dennoch band Reyna mit vor Kälte schmerzenden Fingern die Sternenseide von ihrer Taille und ließ sie frei hängen.
Hör zu; du kennst diese Stimme. Dieser Mann ist mein Verwandter, und du weißt inzwischen, daß er dich nicht verletzt hätte; und ebensowenig werden wir dich verletzen.
Dessen war sich Reyna sicher. Birnam Rauth war ins Herz des Waldes gekommen, um die Ungesehene zu beobachten; nicht, um ihr Schaden zuzufügen. Und bestimmt hatten die Ungesehene und all ihre Leibwächter das erkannt, wenn sie ihrerseits ihn beobachtet hatten – wie fremdartig die Intelligenz auch immer sein mochte, mit der sie nach Erkenntnissen suchten.
Die Sternenseide in ihrer Hand sang im vorbeistreichenden Wind. Sie sang ein Lied, das die Ungesehene bereits gehört haben mußte. Aber es gab kein Anzeichen dafür, daß das Lied die Ungesehene rührte oder daß sie es auch nur erreichte. Langsam ließ Reyna den Kopf sinken. Bittere Tränen quollen ihr aus den Augen und rollten über ihre Wangen. Sie brannten ihr auf der Haut. Da änderte sich ihr Sinn.
Auf dem Schiff gab es Waffen und Ausrüstungen. Verra hatte sie ihr gezeigt. Flammenwerfer, Hiebklingen und Waffen, die so rasch Geschosse durch die Luft zu schleudern vermochten, daß niemand ihnen ausweichen konnte. Und weitere Waffen, die ihr unverständlich waren. Reyna dachte
voller Rachsucht an diese Möglichkeiten. Wenn sie Juaren hier zurückließ und zu den Waffen ging, konnte es sein, daß sie ihn nie wiedersah. Sie mochte nie herausfinden, wo die Leibwächter ihn während ihres Wegbleibens versteckten.
Aber sie konnte genau das tun, was die Ungesehene am meisten fürchten mußte. Sie konnte die Leibwächter niedermachen. Sie konnte sie verbrennen, wo sie auch hockten. Sie konnte das Herz des Waldes in eine riesige Fackel verwandeln. Sie konnte die Ungesehene ihren Schmerz spüren lassen, wenn auch nicht ihre Trauer.
Sie konnte selbst etwas so Wertvolles, etwas so Kostbares wie Juaren zerstören. Sie konnte den Wald entlauben. Sie konnte seinen Geist und seine Lieder auslöschen.
Sie erschauerte bei diesem
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