Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
hatte, die im Schlaf aufgebrauchten Nahrungsreserven ihres Körpers aufzufüllen. Ein Winterkind wurde früher im Jahr empfangen; sei es mit Absicht oder aus Versehen. Und ein Winterkind kam im Winter zur Welt, während seine Mutter noch schlief.
»War es Absicht?« fragte Reyna.
Sie wußte, daß gelegentlich eine Frau das Ovulantium aus dem Regal im Vorratsraum entwendete und außerhalb der Saison trank. Gewöhnlich kam das nur vor, wenn eine Frau sich einem ungelösten Konflikt gegenüber sah, der sie persönlich, ihren Gefährten oder ihre Familie betraf. Was sie getan hatte, kam schnell genug heraus, und die Geburt wurde verhindert.
»Nein«, sagte er. »Es war spontan. Irgendeine Kraft hatte gewünscht, daß ich geboren würde – auf jeden Fall vermutete Komas etwas derartiges –, und meine Mutter hatte außerhalb der Saison einen Eisprung. Der Eisprung fand spontan statt, ohne daß sie es überhaupt gemerkt hatte. Mein Vater konnte ebensowenig davon wissen wie sie. Und als sie merkte, daß sie empfangen hatte, verheimlichte sie es. Mag sein, daß sie an die gleiche Kraft wie Komas glaubte. Vielleicht hatte sie nur Angst vor dem Abbruch. Oder möglicherweise schämte sie sich auch, danach zu verlangen. Mag sein, daß sie dachte, niemand würde ihr glauben, daß sie nichts getan hatte, um den Eisprung hervorzurufen.
Aus welchen Gründen auch immer, statt zur Hebamme zu gehen und eine Abtreibung zu beantragen, kleidete sie sich in dickere Hemden und lachte am Eßtisch über die Extrareserven, die sie sich für den Winter anlegte. Niemand vermutete, daß sie einen anderen Grund hatte; nicht, bis die Zeit des Erwachens gekommen war und man mich neben ihr entdeckte. Zur Geburt mußte sie wach geworden sein, denn ich war zusammen mit ihr in die Bettücher gewickelt. Aber sie war tot, und ich lebte. Ich war lebendig und warm.«
Reyna schauderte. Er war lebendig und warm gewesen, weil er den Winterschlaf im Leib seiner Mutter verbracht und sich an ihren Reserven gemästet hatte, während sie allmählich verhungerte.
»Wenn sie das Schlafkraut nicht genommen hätte, wenn sie gebeten hätte, vom Winterschlaf ausgenommen zu werden ...« sagte sie.
»Dann hätte sie überlebt. Auch, wenn sie mich nur einen Monat später empfangen hätte, wäre sie vielleicht noch am Leben. Es war der letzte Monat, der sie umgebracht hat.«
Das stimmte, im letzten Monat machten die ungeborenen Kinder ihre schnellste Wachstumsphase durch und zehrten am meisten an den Reserven ihrer Mutter. Dann mußte die Mutter wach und in der Lage sein, selbst zu essen, oder das Kind nahm ihr alles und zehrte sie auf.
»Dein Vater ...«
Juaren zuckte mit den Schultern. »Sie hatten einander nur für ein einziges Jahr versprochen. Als ich zur Welt kam, war das Jahr vorbei. Er überließ mich der Familie meiner Mutter und zog in eine andere Halle. Als ich zehn Jahre alt war, bat ich Richterin Karnissa, ihn in ihre Wohnung zu zitieren, damit ich mit ihm reden konnte. Ich dachte ...« seine Augen verengten sich, und er verschränkte die Hände ineinander, »... es gäbe etwas zwischen uns zu sagen, obwohl er niemals mit mir gesprochen oder mir auch nur zugenickt hatte. Ich dachte, wenn wir in Richterin Karnissas Räumen zusammensäßen, würden wir schon etwas finden. Ich hatte keine Ahnung, was es sein konnte, ich wußte nur, es wäre wichtig, daß etwas gesagt würde; und zwar bald, sonst würden wir nie zusammen sprechen.« Er zuckte erneut mit den Achseln. »Natürlich war es genau das, was er wollte. Daß wir nie miteinander sprachen. Er lehnte die Bitte ab.«
Und sprach niemals mit seinem Sohn. Reyna fühlte denselben kalten Griff der Qual um ihr Herz, wie Juaren ihn gefühlt haben mußte.
Aber er war zu dieser Qual geboren worden.
Über Winter-Geburten wurde nicht offen geredet, aber es gab haarsträubende Geschichten darüber, die man sich unter Grauen und Schaudern flüsternd weitererzählte. Alle Mädchen in den Hallen wuchsen mit der geheimen Furcht auf, daß eines Winters in den Jahren ihrer Fruchtbarkeit ein kalter Geist der Tiefe auftauchen, in ihre ungeschützte Gebärmutter schlüpfen und ein unnatürliches Kind einpflanzen könnte, das sie der Fettreserven berauben würde, die sie für den langen Schlaf angelegt hatten. Jedes Mädchen nährte die geheime Furcht in seinem Busen, daß sie ihre Familie eines Frühlings bleich und kalt in ihrem Bett vorfinden könnte - und ein rosiges, dickes Kind an ihrer Seite.
Dieses rosige Kind
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