Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
zu sein, großgeworden als Mittelpunkt geflüsterter Geschichten, von Gerüchten eingekreist, denen zufolge er die Ausgeburt einer übernatürlichen Schandtat war, für immer zum Ausgestoßenen gestempelt, zum ungeladenen Eindringling, zum unerwünschten Außenseiter ... Wie hätte er unter diesen Bedingungen leben und dennoch erhoffen können, daß man ihn anerkannte?
Reyna fühlte sich miserabel. »Und ich habe dich genauso wie dein Vater behandelt. Ich habe mich geweigert, mit dir zu reden. «
»Ja.« Er starrte finster auf den Tisch vor sich. »Nachdem meine Bitte abgelehnt worden war, ging ich in die Berge und kehrte nie zurück. Es war kein Platz für mich im Tal. Es war nie einer dort für mich gewesen; nicht einmal unter den Leuten meiner Mutter. Sie raunten sich die gleichen Geschichten zu wie alle übrigen, während sie in der Öffentlichkeit ganz anders redeten. Ich war nur bei ihnen geblieben, weil ich gehofft hatte, eines Tages einen Platz unter ihnen zu haben. Bis ich endlich einsah, daß man ihn mir niemals zugestehen würde.« Seine Stimme wurde leiser. »Und jetzt bist du in der gleichen Lage. Für dich ist ebenfalls kein Platz in deinem Tal.«
Sie sah ihn empört an, weil sie glaubte, aus seiner Stimme Genugtuung herausgehört zu haben. Aber sie hatte noch nie Gehässigkeit bei ihm feststellen können, und sie konnte es auch jetzt nicht.
Außerdem hatte er recht. Sie hatte keinen Platz. Selbst angenommen, sie träfe Birnam Rauth lebend an und brächte ihn mit ins Terlath-Tal zurück, wo würde ihr Platz sein? Sie wäre noch immer eine Palasttochter, die niemals zur Barohna werden und niemals zur Frau reifen könnte. Das war es also, wurde ihr klar, weshalb sie Verständnis in Juarens Augen gesehen hatte, als ihre Mutter ihr zum erstenmal eröffnet hatte, daß sie ihre Prüfung nicht machen dürfe. Er hatte damals ihre Gefühle aus eigener Erfahrung nachvollziehen können.
»Wir haben beide keinen Ort«, sagte er.
Aufgewühlt löste sie ihre Flechte auf und ließ die Haare durch die Finger gleiten. »Aber du hast mir noch immer nicht erzählt, warum du gekommen bist.«
Er zuckte mit den Schultern und beschloß, ihr zu trauen. »Weil Komas es wollte«, sagte er.
»Dein Gildenmeister? Der Mann, der dich gelehrt hat, zu jagen?«
»Der Mann, der mich gelehrt hat, was Jagen einst bedeutet hat, in den ersten Tagen. Sogar die Jäger haben es vergessen - die meisten jedenfalls –, und jetzt gibt es nicht mehr viele davon. Wir wurden so lange Jäger gerufen ...«
»In den ersten Tagen nach der Strandung?« vermutete sie, als er nicht weitersprach. Denn so waren die Erstzeiter vor vielen tausend Jahren auf Brakrath gekommen. Sie hatten sich auf einem Sternenschiff befunden, das abgestürzt War; sie hatten notlanden müssen.
»In den ersten Tagen nach der Strandung. In den ersten Jähren. In den ersten Jahrhunderten«, sagte er leise. »Wir waren Wächter damals, keine Jäger. Wir waren an den Talausgängen postiert und hielten Ausschau.«
Er schwieg wieder. Er schien zurückzudenken; vielleicht versuchte er, sich die ersten Siedlungen vorzustellen, wie sie gewesen waren, bevor sich die Menschen an die harten Bedingungen auf Brakrath angepaßt hatten. Damals hatte es keine Barohnas gegeben. Es hatte weder Steinhallen noch Paläste gegeben. Das Schlafkraut war noch nicht entdeckt worden. Es hatte nichts gegeben außer einer Handvoll armselig ausgerüsteter Menschen, die sich verzweifelt bemühten, in den langen, harten Wintern und den kurzen, unwirtlichen Jahreszeiten des Wachstums zu überleben. Es hatte nur Menschen gegeben, die dabei waren zu verhungern.
Und die hofften. »Sie hielten nach Schiffen Ausschau«, sagte Reyna, die sich erinnerte, was sie in der Palastbibliothek gelesen hatte. »Die Leute glaubten, sie würden vermißt. Sie glaubten, daß Schiffe kommen, sie ausfindig machen und zu der Welt bringen würden, für die sie sich verpflichtet hatten und zu der sie unterwegs gewesen waren, als ihr Schiff abstürzte. Deshalb schickten sie Männer aus, die Wache stehen sollten.«
»Ja, anfangs dachten sie noch, Schiffe würden kommen und sie bergen. Später fürchteten sie, andere Schiffe könnten kommen und sie vernichten. Damals verließen rivalisierende Gruppen die Erde. Man nannte es den Exodus von der Erde. Zuweilen versuchten die Angehörigen verschiedener Gruppen, dieselbe Welt zu kolonialisieren, und es kam zu Kriegen. Also wurde den Erstzeitern nach einer Weile klar, daß sie
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