Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
verteidigen vermochten. Sie ernährten sich von Insekten und aus Schwellungen an den
Bäumen, hartschaligen Ausbuchtungen voller Saft, die sich überall dort an den Bäumen bildeten, wo Borkenbohrer am Werk gewesen waren. Spinner hatten weder Krallen noch Zähne noch sonstige Verteidigungswaffen. Sahen sie sich einer Gefahr gegenüber, konnten sie nur kreischen, bis ein Sithi es hörte und kam, um den Angreifer zurückzuschlagen.
Das wenigstens waren die Tatsachen, die Tsuuka bis zu diesem Tag gekannt hatte. Spinner waren schwach, und Sithis waren stark; Spinner waren hilflos, und Sithis waren ihre Beschützer. Aber nun war Tsuuka voll Entsetzen vor Spinnern weggelaufen; und nicht nur einmal, sondern gleich zweimal.
Wer konnte ihr nur sagen, weshalb? Sie grübelte darüber nach, bis sie in ihr Nest zurückkletterte und sich auf die
Stummseiden fallen ließ, um sich den anhaftenden Geruch der Furcht aus dem Fell zu lecken. Es wäre einerlei, an welchen der älteren Sithis sie sich wendete, sie würde immer
dieselbe bekannte Warnung zu hören bekommen – daß sie niemals in das Herz des Waldes gehen durfte und daß sich dort etwas befand, das kein Sithi je erblicken durfte. In diesem Sinn hatte ihre Mutter sie ermahnt, und so hatte sie ihre eigenen Jungen gewarnt, obwohl sie die Mahnung nicht besser verstand als ihre Mutter.
Aber ihre azurblaue Seide, ihre Himmelsseide – sie sah zu ihr hoch, wie sie dort straff zwischen ihren Schwestern gespannt hing. Die Seide war von Spinnern hergestellt worden. Sie teilte ihre Gedanken mit ihr und mit dem Ungesehenen. Wenn es einen Vermittler im Wald gab, der ihr Antwort gehen konnte, dann war es die Seide.
Und sie würde ihr antworten. Wenn sie ihre Fragen anhören würde und nicht versuchte, sie als Gesang im Wind verklingen zu lassen. Tsuuka knurrte leise, als sie ihr zerzaustes Fell glättete. Sie wußte, was sie zu erwarten hatte, wenn sie sich der Seide mit den üblichen Förmlichkeiten und im verbauten Umkreis des Nestes näherte. Sie hatte ihr schon zuvor Fragen gestellt, und sie war Antworten ausgewichen, geschickt, sanft und verständig, und hatte sie versöhnt, aber auf unbestimmte Weise unbefriedigt zurückgelassen. Wenn sie das Gewebe aber mit an einen unvertrauten Ort nahm und es ihre Krallen spüren ließ ...
Denn diesmal wollte sie nicht abgespeist werden. Und sie wollte nicht von seinem wortlosen Raunen und den bedeutnngslosen Melodien eingelullt werden. Unwissenheit und Furcht hatten ihr Maiilin geraubt; sie sollten ihr nicht auch noch Dariim nehmen.
Am nächsten Tag überdachte sie die Angelegenheit, während sie die Jungen beim Spiel beobachtete, und machte ihre Pläne.
In dieser Nacht näherte sie sich der azurblauen Seide lautlos bei Mondaufgang. Sie band sie von den Nestpfosten los, ohne sich zu erkennen zu geben und indem sie ihre immer drängenderen Fragen ignorierte. Die Seide wußte ganz genau, wer sie war. Es war nur ihr untypisches Schweigen, das sie derart unruhig flattern ließ. Und der Umstand, daß sie ihre beiden Enden losgebunden hatte, wie sie es nie zuvor getan hatte. Alle Schwesterseiden um sie ahnten, daß dort etwas Ungewöhnliches vorging; sie zerrten an ihren Pfosten und mühten sich ab, die Bindungen zu lockern, um ihre 'stimmen angstvoll ertönen lassen zu können. Tsuuka härtete sich innerlich gegen den stummen Aufruhr ab.
Mit der gerafften Himmelsseide unter dem Arm spähte sie flüchtig in Paalans und Kaliirs Nest. Sie bildeten ein Durcheinander pelziger Glieder und schnarchten leise. Sie sah zu Dariim und Falett hinein und beendete ihr abendliches Geflüster durch ein mahnendes Knurren. Dann schlüpfte sie zu Boden und trug das Gewebe durch den Wald, während sie leise auf es einredete:
Du wirst mir heute nacht einiges erzählen, Himmelsseide. Ich bin nun lange genug unwissend gewesen. Jetzt will ich alles erfahren. Du wirst es mir heute nacht sagen.
Sie konnte die Dinge, die sie wissen mußte, kaum zählen. Immer, wenn sie versuchte, ihre Fragen aufzulisten, tauchten
neue Fragen hinter den alten auf, und sie tadelte sich selbst.
Wie konnte sie so lange im Wald gelebt haben und so unwissend geblieben sein? Weshalb hatte sie nie hinter die träge Routine des Jagens und des Sonnens und Trainierens der Jungen geschaut? Warum hatte sie Maiilins Neugier nicht geteilt? Aber Maiilin war jetzt eine Grummlerin, geistlos und ohne Gedächtnis. Tsuuka erschauerte beim Gedanken daran sogleich und grub ihre schwarzen Krallen in die
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