Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
Tageslicht: es hatte schrägstehende gelbe Augen, spitze, scharfe Zähne, gefleckte Ohren und glänzende schwarze Krallen. Und mehr noch erkannte sie: die Muskeln, die sich kraftvoll unter dem kastanienbraunen Fell bewegten. Sie erkannte die Klugheit des Blicks, das Beben der Nüstern, die gespitzten Ohren – und ihre Gedanken machten einen instinktiven Sprung.
Ein Jäger – dies war kein harmloses Lebewesen, das von Gesang und Helligkeit lebte. Dies war ein Geschöpf, das Opfer riß – ein Raubtier. Das wurde aus der geschmeidigen Art ersichtlich, in der es sich bewegte, als es jetzt eine bernsteinfarbene Seide losband, damit sie singen konnte. Es wurde ersichtlich aus der anmutigen und dennoch gedrungenen Form des Kopfes auf dem langen, schmalen Nacken und aus dem Schimmern seiner Zähne und Krallen. Es war ein räuberisches Tier, und es starrte genau auf sie hinab.
Bevor sich Reyna darüber klar wurde, daß sie das Tier nicht erblicken konnte, keinen von ihnen sehen konnte, da sie so tief im Schatten verborgen waren, geschah das zweite Ereignis. Eine Sternenseide erhob ihre Stimme und sang das einsame Lied, das sie so gut kannte – und sprach die Sätze, die ihr so bekannt waren. Sie erstarrte zu atemloser Unbeweglichkeit, als die ihr vertrauten Worte aus den Bäumen erklangen:
Mache dich auf die Suche nach mir. Hole mich hier heraus. Befreie mich.
Mein Name ist Birnam Rauth; und meine Gedanken werden aufgezeichnet. Wenn du sie hörst, suche mich.
Suche mich.
Gebannt lauschte sie der Stimme, die sie aus sternenweiter Entfernung hergerufen hatte; den Worten, die zu vergessen oder verdrängen ihr nicht gelungen war.
Mache dich auf die Suche nach mir.
Befreie mich.
Während sie zuhörte, sträubten sich ihr die Nackenhärchen. Ein Schauer lief ihr übers Rückgrat, das Herz versteinerte ihr in der Brust, und ihr Atem stockte. Zum erstenmal verspürte sie am eigenen Leib, wovon sie so oft gehört hatte; fühlte es in den Höhlungen ihres Herzens, in der Grube ihres Magens, am Prickeln ihrer Finger- und Zehenspitzen.
Über den Abgrund von mehr als einem Jahrhundert war der Name Birnam Rauth bis hierher gelangt und erklang in diesen baumbestandenen Gassen. Ein Mann namens Birnam Rauth hatte seine Fußspuren auf diesem Boden hinterlassen. Ein Mann mit dem Namen Birnam Rauth, dessen Stimme die ihres Vaters war; dessen Gesicht und Augen ebenfalls die ihres Vaters waren. Birnam Rauth hatte unter diesen Bäumen gestanden, zu den Nestbauten dieser dunkelbepelzten Jäger hinaufgestarrt und dem Gesang der Seiden gelauscht. Möglicherweise hatte er das gleiche schwebende Gefühl der Entrückung wie sie verspürt. Wenn es so gewesen war, hatte sich seine Verwunderung in etwas völlig anderes verwandelt. Und jetzt erscholl seine bittende Stimme durch die mondhellen Bäume.
Ich werde hier festgehalten. Ich weiß nicht, wie.
Befreie mich.
Reyna tat einen schmerzhaften Atemzug; sie spürte die Bitte Birnam Rauths als Schmerz in ihrer Brust. Was immer ihm zugestoßen sein mochte, hatte ihn an diesem Ort ereilt. Er war hierher gekommen, um zu forschen. Der Zauber der Seiden hatte ihn in den Wald gelockt; und er war in eine Falle geraten und gefangengenommen worden. Vielleicht auch von einer anderen Kreatur des Waldes; einer Art, die sie noch nicht erblickt hatten.
Reyna sah aufmerksam zu dem Tierjungen hin. Seine gelben Augen waren weit geöffnet. War Wildheit in seinem Blick? Die Krallen waren spitz und scharf. Es hatte noch Milchzähne, aber Reyna ahnte, wie seine ausgewachsenen Zähne aussehen mochten. Sie würden von schimmernder Weiße sein und äußerst scharf.
Birnam Rauth – sein Blut rann durch ihre Adern, und seine Stimme klagte von den Bäumen herunter. Hier war ihm etwas zugestoßen. Er war hierher gegangen und nie zurückgekehrt. Und jetzt wandelten sie, Juaren und Verra unter denselben Bäumen. Und sie, Juaren und Verra waren derselben Gefahr ausgesetzt; sichtbar oder unsichtbar. Die leuchtenden Farben und die Lieder der Seiden betörten ihre Sinne nicht länger; sie ließen ihr Herz verzagen und ihre Brust eng werden.
11 Tsuuka
Tsuuka spielte nie mit ihren Opfern; wenn sie ein Beutetier schlug, erledigte sie es rasch durch einen erprobten Schlag mit den Krallen oder durch heftiges Beuteln. Und ihre Jungen züchtigte sie auch nie. Sie schlug sie nicht und brachte sie nicht zum Weinen. Sie schwenkte nie frisches Fleisch vor ihren Nasen, um es ihnen dann vorzuenthalten, so daß sie danach sprangen
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