Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
Himmelsseide.
Sie trug das Gewebe an einen ihr bekannten Ort, an dem sechs junge Bäume dicht beieinander im Kreis wuchsen. Der Wald war hier still. Es gab keine Nester in weitem Umkreis. Tsuuka schritt auf den freien Platz zwischen die Bäume und schüttelte die azurblaue Seide frei. Dann band sie das Tuch an dem kräftigsten der sechs weißen Bäume fest, bevor die Brise es blähen konnte. Sie ergriff die Enden, wickelte sie sich um die Hände und zurrte sie fest.
Du wirst meine Fragen beantworten, Himmelsseide,
sagte sie.
Denn wenn du es nicht tust, werde ich dich an diesem einsamen Ort zurücklassen; ohne deine Schwestern und ohne jede Gesellschaft außer deiner eigenen.
Und falls mir deine Antworten mißfallen, werde ich noch mehr tun. Ich werde dich losbinden und auf den Boden werfen. Du bist keine Meisterseide. Du kannst dich nur wenig höher erheben, als der Wind dich trägt. Wenn du nicht antwortest, werde ich dich nieder-schleudern und auf dem Bauch kriechen lassen, bis dich ein Borkenbohrer oder Grasflegel findet und mitnimmt, damit du sein Lager schmückst. Und niemand wird hier sein und dich hören.
Niemand wird kommen, um dich zu retten und zurück auf die Bäume zu bringen, Seide. Ebenso, wie niemand den Verstand meiner Schwester wiederherzustellen vermag.
Ebenso, wie mich niemand von meiner Unwissenheit befreien konnte, seit ich anfing, Fragen zu stellen.
Sie spürte, wie die Seide in ihrer Hand bebte; hörte ihr gewispertes Flehen in ihrem Kopf. Ganz allmählich lockerte sie den Zug an den straffen Enden und gewährte der Seide einen sorgfältig bemessenen Spielraum.
Berichte mir, wieso es im Herzen des Waldes Spinner mit Stacheln gibt, Seide.
Die Worte der Seide kamen leise und scheu und gingen nicht auf ihre Frage ein.
Tsuuka? Bist du Tsuuka, die Tochter Miralans und Schwester Maiilins?
Du weißt sehr gut, wer ich bin, Seide,
erwiderte Tsuuka ungeduldig, schnappte nach der Seide und zog sie kurz wieder stramm.
Ja … ja, du bist Tsuuka, Jägerin des Waldes,
sagte die Seide furchtsam, als Tsuuka ihr wieder zu reden ermöglichte.
Du bist Tsuuka, die behutsam Schleichende; Tsuuka, die leichtfüßig Springende. Du bist …
Tsuuka schnappte erneut nach der Seide und hielt sie diesmal länger straff gespannt.
Seide, ich habe dir eine Frage gestellt; die erste von vielen Fragen. Und ich habe dir gesagt, was ich mit dir mache, wenn du nicht antwortest. Weshalb verschwendest du die Zeit, indem du über derartige Nichtigkeiten redest?
Die Seide schien sich zu besinnen.
Tsuuka, Jägerin, bitte sag mir . . . welche andere Rede erwartest du von mir? Ich bin keine Meisterseide mit Denkvermögen und eigenem Willen, die eine Lebensseide von einer Bewahrten übernommen hat. Ich bin nur eine Singseide; wenig mehr als eine Stummseide.
Du hast vorher nie von dir gesagt, daß du nur wenig mehr als eine Stummseide bist,
sagte Tsuuka.
Aber jetzt spreche ich die Wahrheit, Tsuuka,
erwiderte die Seide,
denn du hast mich gefragt, und du bist die Jägerin meines Nestes. Du bist diejenige, die den Spinnern befohlen hat, mich ins Leben zu rufen. Du hast veranlaßt, daß ich eine Stimme erhielt. Du bist diejenige, für die ich singe.
Dann benutze deine Stimme dazu, mir Antworten zu singen!
sagte Tsuuka barsch, fuhr ihre Krallen aus, beugte und streckte sie und fuhr mit ihnen über das glatte Gewebe.
Du hast aber etwas gesagt, das ich nie zuvor vernommen habe: daß die Meisterseiden ihre Denkfähigkeit und ihren Willen aus der Lebensseide einer Bewahrten übernehmen.
So ist es,
erwiderte die Seide wispernd.
Tsuuka, so ist es. Das ist der Grund, weshalb sie so sorgfältig geschützt werden müssen. Weil sie so selten und kostbar sind, und weil es so schwierig ist, sie herzustellen. Die Spinner müssen bestimmte Substanzen finden und sie selbst verzehren, bevor sie eine Meisterseide fertigen können. Danach ist sorgfältige und langwierige Arbeit zu tun; und wenn diese Arbeit getan ist, muß die Seide drei Tage und Nächte lang mit der Lebensseide der ausgewählten Bewahrten verbunden werden, damit sie Bewußtsein und Denkvermögen erhält.
Irgendwann ist dies alles geschehen, und die Meisterseide ist fertig; sie hat einen eigenen Willen, der für ihre Art typisch ist und verschieden vom Willen der Bewahrten, die ausgewählt wurde, sie beleben. Und ihr Wille ist es, in die Bäume und in die höchsten Zweige zu flattern und ihr Gewebe zu verderben, indem sie zuviel Sonnenlicht auffängt; überläßt man sie sich
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