Sternenseide-Zyklus 3 - Sternenseide
Nester.
Sie vernahmen den Gesang, lange bevor sie die Seiden in den Bäumen erblickten. Anfangs erreichte er sie nur schwach; eine einzelne Stimme, die durch die Bäume erklang und sich anhörte, als käme sie vom Licht her. Sie blieben stehen und drängten sich eng aneinander, und über Reynas Rücken lief ein prickelnder Schauer. Verstohlen schlüpfte ihre Hand in die Juarens. Die Wärme seiner Finger tröstete sie, als sie weitergingen, indem sie dem Klang folgten.
Der Gesang wurde um so lieblicher, je mehr sie sich seiner Quelle näherten; wurde klarer und vielfältiger. Und die einzelne Stimme wurde von anderen begleitet; einige näher, einige weiter entfernt; alle sangen ohne Worte, jede Stimme war sauber unterscheidbar und unverwechselbar. Als Reyna ihnen zuhörte, überkam sie ein Gefühl von Glanz und Farbe, als lausche sie einem mit einer Stimme begabten Regenbogen. Zudem bemächtigte sich ihrer ein Gefühl der Unwirklichkeit. Ihre Schritte schienen in Lautlosigkeit zu versinken, als berührten ihre Füße nicht den Boden; so, als hielte sie das Antischweregerät noch immer in der Schwebe.
Sie drängten vorwärts und überquerten eine weite Lichtung, die mit hohem Gras bestanden war. Frühtau benetzte Reynas Schuhe und kühlte ihre Füße. Sie nahm es nicht zur Kenntnis, weil Juarens Hand sie hielt; und mit einem sie überflutenden Gefühl der Losgelöstheit sah sie auf und erblickte Nester, die wie Blüten in den weißstämmigen Bäumen auf der anderen Seite der Lichtung hingen. Ihre Wände bestanden aus straff ausgespannten Seiden aller Farben: bernsteinfarben, gelb, violett und scharlachrot, smaragdgrün, golden und azurblau, chartreuse und purpurn. Das Mondlicht schien durch die Seiden und ließ ihre Farben aufleuchten; ließ sie wie lebend erscheinen.
Reyna hielt den Atem an, als sie nach oben starrte. Seiden hingen in den Bäumen, und ihre Farben waren wie lebendig; und ihr Sinn für Wirklichkeit verwirrte sich derart, daß sie glaubte, gewichtlos zu ihnen emporschweben und sie berühren zu können. Sie fühlte, daß sie inmitten der Seiden schweben konnte, ihr eigenes Lied singen konnte, einen wortlosen Gesang der Freude. Aber Juaren hielt ihre Hand fest und gab ihr Halt, und sie gingen weiter.
Behutsam setzten sie ihren Weg durch den singenden Wald fort, und niemand erhob ein Geschrei als Protest gegen ihr Eindringen. Oft hielten sie inne, um zu beobachten, wie die Seiden im Wind flatterten, wie sie sich im Mondlicht wiegten und wanden. Zuweilen erblickte Reyna langgestreckte Schatten, die sich gegen die seidenen Wände der Nester abhoben. An einigen Nestern flatterten zwei oder drei Seidenbahnen lose im Wind und erhoben ihren wortlosen Gesang. Von anderen Nestern her erklang kein Lied.
Reyna verengte die Augen und blickte hinauf, und sie sah kleinere Nester in den oberen Zweigen der Bäume. Die Seiden, aus denen ihre Wände bestanden, waren glanzloser als die der unteren Nester, und von keinem von ihnen flatterte eine Seidenbahn lose. Keine von ihnen sang.
Die Bäume bildeten breite Gassen. Sie erinnerten Reyna an die steinernen Gassen des Terlath-Tals, weit und unbelebt bis auf Menschen, die von den Feldern nach Hause kamen, und Hirten, die ihre Herden auf die Weiden trieben.
Juaren führte sie von Schatten zu Schatten. Reyna ahmte seinen leichten Schritt nach; es fiel ihr nicht schwer, da sie fühlte, daß sie leicht emporschweben könnte in den Chor der seidenen Stimmen. Verra folgte ihnen, das Tierkind fest gegen den Busen gedrückt und einen Finger in seinem Mäulchen, damit es ruhig blieb.
Während sie sich von einem Schatten zum anderen bewegten, hörten sie einige Male ein Rascheln im Unterholz nahebei. Einmal sah Reyna dorthin und erblickte blinzelnde schwarze Augen, die aus einer Höhle hervorlugten. Als ihr Schatten auf den Eingang der Höhle fiel, verschwand ihr Bewohner, warf Erde hinter sich und verschloß den Eingang zu seiner Wohnung.
Dann geschahen zwei Dinge zugleich, zwei Ereignisse, die Reynas Entzücken vertrieben und bewirkten, daß sich ihre Haut zusammenzog. Juaren entdeckte ein Anzeichen, das sie nicht bemerkte, blieb stehen, hielt ihre Hand mit festem Griff und zerrte sie tiefer in den Schatten zurück. Sie rang nach Luft, unterdrückte eine erschrockene Frage und schaute in die Richtung, in die sein Finger deutete.
Ein Geschöpf in dunklem Fell spähte aus seinem Nest, von Mondlicht wie von einer Aura umgeben. Reyna sah das Tier so klar, als wäre es helles
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