Sternhagelgluecklich
dreiundachtzig Krankheiten leiden, die den Gesunden so große Angst machen, dass sie das Leben mit einer solchen Krankheit für nicht mehr lebenswert halten. Und dennoch ist die Selbstmordrate unter genau denjenigen Menschen, die an diesen Krankheiten oder Behinderungen leiden, kaum höher als unter gesunden Menschen.
Vermutlich überschätzen wir die negativen Folgen einer chronischen Krankheit oder Behinderung derart, weil wir, wenn wir sie uns vorstellen, nichts anderes mehr sehen können. Wir glauben, dass neben dieser Krankheit kein Platz mehr für Schönes im Leben ist. Denken wir an Querschnittslähmung, sehen wir nichts als den Rollstuhl. Dass wir uns trotzdem verlieben, gute Bücher lesen, Freunde haben, beruflich erfolgreich sein, ja sogar Sport treiben könnten – kurzum: dass wir ein glückliches Leben führen könnten, kommt uns dabei nicht in den Sinn.
So ähnlich ist es auch mit Herrn Regner und mir: Ich kann mir zunächst nicht vorstellen, dass man einem Besuch im Tierpark etwas abgewinnen kann, wenn man nicht einmal mehr einen Elefanten erkennen kann – selbst wenn er direkt vor einem steht. Dabei gibt es unzählige andere Dinge, die Herr Regner an unserem Ausflug genießt: den Kontakt mit anderen Zoobesuchern, lachende Schulklassen, die an uns vorbeilaufen, die verschiedenen Gerüche – auch wenn sie je nach Tier und Verdauung nicht immer angenehm sind –, die Wärme der Sonne auf der Haut, die Abwechslung zum Alltag in der räumlich begrenzten Welt des Wohnheims.
Nach einer Weile setzen wir uns in den Schatten und packen die kleine Brotzeit aus, die wir aus dem Seniorenheim mitgenommen haben. Herr Regner schenkt mir seine Banane. (»Die stopft immer so – so wat können Sie in meinem Alter nicht mehr essen!«) Ich gebe ihm dafür etwas von meinem Nachtisch. Schweigend sitzen wir beide da und kauen. Wir haben nichts gemeinsam, kommt es mir in den Sinn. Wir leben in zwei komplett unterschiedlichen Welten. Ich behaupte, es gibt kein einziges Buch, das wir beide gelesen haben, kein Lied, das wir beide kennen, unsere Biografien sind komplett unterschiedlich. Die Chance, dass wir uns zufällig kennengelernt hätten, liegt bei null. Vielleicht empfinde ich diese Freundschaft gerade deshalb als etwas Besonderes.
Am Ende des Tierparkausflugs, als wir uns verabschieden, nimmt er mich zum Abschied statt unseres üblichen Handschlags in die zittrigen Arme. »Kommen Sie mich eigentlich gerne besuchen?«, fragt er mich.
»Sehr gerne«, sage ich. »Sonst würde ich es nicht tun.«
Es stimmt tatsächlich. Mit meinen ursprünglichen Glücksexperimenten haben die Besuche bei ihm und bei Frau Knapp schon lange nichts mehr zu tun.
»Ich bin jedenfalls immer sehr froh, wenn Sie zu mir kommen«, sagt Herr Regner zum Abschied. Jetzt bin ich es, dem beinahe die Tränen kommen.
Auf dem Nachhauseweg sitzen mir in der Straßenbahn zwei Schulmädchen gegenüber. Sie waren am Nachmittag einkaufen, jetzt fahren sie zusammen nach Hause. Kichernd stecken sie die Köpfe zusammen. Als die nächste Haltestelle gekommen ist, steigt eine der beiden aus.
»Ich renn dir nach«, ruft sie durch die sich schließende Tür, ihre Freundin drinnen lacht glücklich und saust, als die Straßenbahn losfährt, den Gang entlang nach hinten, während ihre Freundin draußen auf dem Bürgersteig mitläuft. Irgendwann wird die Bahn doch zu schnell, und das Mädchen draußen fällt immer weiter zurück. Beide lachen und winken, glücklich miteinander und so froh über ihre Freundschaft, dass um jede Sekunde, die sie noch länger zusammen verbringen können, gekämpft wird.
Ich denke an den Liedermacher Funny van Dannen und seinen schönen Satz: »Freundinnen müsste man sein.« Am besten sogar beste.
Hallo, Nachbar!
Das triste Quadrat grauer Erde, das wir zu unserem Garten erklärt haben, ist in den letzten Wochen zu einer grünen Oase geworden. Im hinteren Bereich leuchtet eine kniehohe Blumenwiese in allen Farben. Hummeln und Bienen fliegen emsig zwischen den Blüten hin und her. Im vorderen Teil haben wir unser Glück mit Sauerampfer und Melisse versucht, aber dort hat sich Unkraut breitgemacht, das wir als unerfahrene Gärtner leider nicht sofort erkannt haben. Deshalb ist jetzt Jäten angesagt.
Auf allen vieren kriechen wir in der prallen Sonne über den Boden, zupfen und ziehen, und ich frage mich, ob es wirklich eine so gute Idee war, sein Glück in etwas so Eigensinnigem zu suchen wie in einem Garten. Doch die Zweifel
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