Sternhagelgluecklich
Knapp kann er kaum noch sehen, aber sein Geruchssinn funktioniert noch – nur gibt es in der Seniorenwelt nicht mehr allzu viel zu riechen, von Desinfektionsmittel und Großküchenessen einmal abgesehen.
Herr Regner geht das Altern sehr diszipliniert an. Jeden Vormittag geht er nach unten in den großen Saal zu den wechselnden Gruppenveranstaltungen. »Montags ist Gedächtnistraining, Dienstag Tanzen. Mittwoch singen wir, Donnerstag gibt es Gymnastik. Und jeden Freitag bade ich«, zählt er auf. Zuvor geht er jeden Morgen zwei Runden durch den Garten: »Man muss ja in Bewejung bleiben. Wissen Se, ick war nie’n Stubenhocker.«
Nachdem er am Dienstagnachmittag mit mir seine Runden gedreht hat, setzen wir uns auf eine Bank im Schatten. Herr Regner erzählt mir von seinem Leben, das sich nahezu komplett in diesem Teil von Berlin abgespielt hat, bis auf die Kriegsjahre und die anschließende dreijährige Gefangenschaft in einem französischen Lager. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich den Militarismus verabscheue«, sagt er bei jedem einzelnen unserer Treffen. Ich frage ihn über die Zeit damals aus, über sein fast einhundertjähriges Leben. Im Gegenzug will er von mir wissen, wie es in Detroit zugeht und wie in Indien. Wie ich arbeiten kann und trotzdem am Dienstagnachmittag Zeit habe, mit ihm hier auf der Bank zu sitzen. Als ich ihm erkläre, dass ich freiberuflich schreibe, kommt er ins Grübeln. »Davon kann man leben?«, fragt er nach einer Weile und sieht mich ungläubig an. Als ich bejahe, kneift er die Augen zusammen und fragt: »So wie die Frau, die Harry Potter schreibt?«
Wir müssen beide lachen, als ich ihm erkläre, dass Joanne K. Rowling zigfache Millionärin ist, ich hingegen seit zwei Monaten nicht mal mehr ein Auto habe. »Macht ja nüscht«, sagt er. »Hauptsache, Sie sind gesund.«
An einem sonnigen Dienstag im Juni fahren wir zusammen mit anderen Heimbewohnern in den Tierpark. Herr Regner kann so gut wie nichts mehr sehen, aber er kennt den Tierpark trotzdem fast genauso gut wie den Garten hinter dem Seniorenheim und kündigt mir schon vorher an, an welchem Gehege wir als Nächstes vorbeikommen. Bei den Elefanten hoffe ich, dass wenigstens die groß genug sind, dass Herr Regner sie noch sehen kann. Wir fahren mit dem Rollstuhl, in dem er heute ausnahmsweise sitzt, so nah wie möglich an einen grauen Koloss heran.
»Können Sie ihn sehen?«, frage ich ihn.
»Nee, nüscht«, sagt er. Der riesige Elefant trottet nach rechts. »Doch, ick gloobe, da hat sich wat bewegt.«
Obwohl er nichts von den Tieren und der Umgebung sieht, genießt Herr Regner den Ausflug trotzdem jede Minute, das sieht man ihm an. Ich muss an eine Studie denken, in der einerseits Sehende gefragt wurden, wie viel Geld sie bezahlen würden, um ihr Augenlicht zu behalten. Andererseits wurden erblindete Menschen gefragt, wie viel sie bezahlen würden, um ihr Augenlicht wiederzuerlangen. Interessanterweise war der Durchschnittsbetrag, den die Sehenden bezahlen würden, viel höher als der Durchschnitt bei den Blinden. Den Sehenden war es den Wissenschaftlern zufolge also wichtiger, ihr Augenlicht zu behalten, als es den Blinden war, es wiederzuerlangen. Befragungen von Menschen mit verschiedenen anderen körperlichen Einschränkungen führten zu vergleichbaren Ergebnissen – und dies legt nahe, dass wir mögliche negative Konsequenzen in ihrer Drastik oft überschätzen und gleichzeitig unterschätzen, wie glücklich Menschen sein können, die nicht zu hundert Prozent gesund sind. Oder wie es der Harvard-Psychologe Daniel Gilbert in seinem Buch »Stumbling On Happiness« 29 schreibt: »Wir überschätzen, wie glücklich wir an unserem Geburtstag sein werden, und wir unterschätzen, wie glücklich wir an einem normalen Montagmorgen sein werden – und wir machen diesen Fehler immer und immer wieder, egal wie oft uns die Realität eines Besseren belehrt.«
Natürlich ist es nicht wünschenswert, blind oder querschnittsgelähmt zu sein. Aber diejenigen, die es sind, zeigen uns, dass es nicht annähernd so furchtbar ist, wie wir Unversehrten es uns in unseren pessimistischsten Träumen ausmalen.
Das belegt auch eine weitere Studie, in der gesunde Menschen gefragt wurden, wie schlimm sie verschiedene Krankheitszustände einschätzten. Insgesamt dreiundachtzig Krankheitsbilder oder Behinderungen wurden als »schlimmer, als tot zu sein« eingestuft.
Nun gibt es leider zahlreiche Menschen, die tatsächlich an einer jener
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