Sternhagelgluecklich
langweilen.
Gleichzeitig fährt mir bei jedem Gähnen ein Schauer durch den ganzen Körper, der irgendwo zwischen dem Prickeln einer Gänsehaut, einem Orgasmus und Kreislaufschwäche angesiedelt ist.
Veränderungen in meiner Stimmung merke ich in den ersten Tagen jedoch nicht. Das Dauergähnen und das seltsame Gefühl, in Watte gepackt zu sein, nehmen nach ein paar Tagen wieder ab. Ganz verschwinden werden sie jedoch die nächsten sechs Wochen, in denen ich jeden Morgen eine Kapsel einnehme, nicht mehr. Entwarnung kann ich lediglich bezüglich Übelkeit, Durchfall, Schweißausbrüchen, Impotenz und all den anderen gruseligen Nebenwirkungen geben, vor denen ich vorher Angst hatte.
Das liegt unter anderem daran, dass sich die Antidepressiva im Lauf der Zeit immer weiterentwickelt haben. Prozac dürfte in diesem Bereich wohl der bekannteste Name sein – ursprünglich wollte ich mein Experiment auch damit durchführen, die moderneren SSNRI s gelten jedoch als verträglicher.
Seit Prozac im Jahr 1987 auf den Markt kam, haben Antidepressiva einen weltweiten Siegeszug angetreten. Als eines der ersten Medikamente wurde Prozac nicht nur unter einem peppig klingenden Fantasienamen, sondern auch mit einer gigantischen Werbekampagne in den Markt gedrückt – der es wiederum dankbar aufnahm. Schließlich machten zu jener Zeit immer mehr Geschichten von Valiumabhängigkeit die Runde.
Prozac galt als leichter verträglich und dabei effektiver als die bisherigen, die sogenannten trizyklischen Antidepressiva. In den Neunzigerjahren wurde das Medikament des Pharmakonzerns Eli Lilly immer häufiger verschrieben und zu einer Modedroge, einer Art »pharmazeutische Fendi-Handtasche«, wie es der Guardian einmal umschrieb. Im Jahr 1999 war das Antidepressivum für mehr als ein Viertel der zehn Milliarden Dollar Umsatz des Herstellerkonzerns verantwortlich.
Kritiker wie David Healy – Verfasser des Buchs »Let Them Eat Prozac« – bemängeln vor allem die simplistische Grundhaltung, die ihres Erachtens hinter dem Medikament stecke: Lediglich den niedrigen Serotoninspiegel dafür verantwortlich zu machen, dass es jemandem psychisch schlecht geht, sei zu einfach gedacht – und oft auch schlicht falsch, auch wenn es für Betroffene oft eine gewisse Erleichterung bringe, wenn die aus der Balance geratene Chemie die »Schuld« an der Misere trägt.
Tragödien wie der Amoklauf eines Druckereiangestellten, der nach einem Monat auf Prozac erst acht Menschen und dann sich selbst mit einem Maschinengewehr tötete, lassen ebenso Vorbehalte an dem Medikament aufkommen wie die wiederholten Fälle von Teenagerselbstmorden in der Frühphase einer Therapie mit Prozac und ähnlichen Medikamenten.
Nach über zwanzig Jahren am Markt überwiegen für die meisten Wissenschaftler und Psychiater jedoch die positiven Effekte. Sie gehen davon aus, dass der Verzicht auf ein Medikament wie Prozac bei einer andauernden oder wiederkehrenden Depression mehr Risiken berge als seine Einnahme. Das kann man auch an der Anzahl der Verschreibungen ablesen: Nicht nur in der Prozac-Hochburg USA , auch in Europa ist die Zahl der Menschen gestiegen, die sich Psychopharmaka verschreiben lassen. Heute nehmen in Europa im Durchschnitt acht Prozent aller Menschen Antidepressiva. Portugal ist mit rund fünfzehn Prozent Spitzenreiter, Griechenland mit drei Prozent Schlusslicht. Deutschland liegt mit etwa fünf Prozent ein wenig unter dem Durchschnitt.
Das doppelte Tabu
Interessant finde ich, dass man bei Antidepressiva wie Prozac oder eben auch Venlafaxin auf eine Art doppeltes Tabu stößt. Zunächst einmal wird bereits die zu behandelnde Erkrankung (also beispielsweise eine Depression oder Angststörung) in unserer erfolgsorientierten Gesellschaft noch immer misstrauisch beäugt. Auch wenn sie unter den meisten jungen Erwachsenen mittlerweile nicht mehr als Stigma gilt, wird eine solche Krankheit doch meist erst dann zugegeben, wenn sie erfolgreich überwunden wurde.
Aber es scheint mir noch ein zweites, damit eng verknüpftes Tabu zu geben. Selbst wenn man zum Beispiel an wiederkehrenden Depressionen leidet, lautet nach meiner Wahrnehmung die gängige Meinung, man habe die Pflicht, sie in notfalls jahrelanger Gesprächstherapie in den Griff zu bekommen. Wer sich stattdessen in Absprache mit seinem Therapeuten und einem Neurologen »einfach was verschreiben« lässt, nimmt in den Augen vieler eine unlautere, eine ungehörige Abkürzung. So wie Doping beim Sport
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