Sterntaucher
wie ein Sprinter, der für Olympia trainiert, doch durch die Straßen am Bahnhof ging er so schleppend wie ein Tourist, der sein Glück nicht fand.
Ruhelos wie hungrige Vögel schwebten seine Gedanken heran, um sich an bösen Bildern festzukrallen. Robin auf einer Bahre, festgezurrt mit Gurten, zwei Leute zum Tragen. Man braucht zwei, hatte ihre Mutter erklärt, das war während ihrer Zeit im Dorf gewesen, als Dorian zum ersten Mal gesehen hatte, wie man Tote trug. Ein Mann packte die Oberarme, ein zweiter die Füße. »Weil er schwer ist«, sagte Katja, »man braucht zwei Leute zum Tragen, damit einer allein ihn nicht fallen läßt.« Er begriff nicht, warum sie es ihm so ruhig sagte und er sie später weinen hörte, so ungestüm und zornig, wie ein Kind weint, wenn es seinem Ball hinterherrennt, der immer weiter von ihm wegkullert, bis in die Hölle hinein. Damals wußte er nicht, daß man die Toten beweint, weil er ja dachte, sie kämen zurück.
Zu viele Gedanken – warum kamen die Erinnerungen, obwohl er sie nicht wollte? Wie ungebetene Gäste lümmelten sie herum und zerstörten die Ordnung im Kopf. Er hatte Robin auf der Bahre ja gar nicht gesehen, weil die Kommissarin Henkel ihn fortgezogen hatte zu den Bänken hin. Der Mensch, den er auf einer Bahre liegen sah, war der andere, der aus dem Dorf, der Fotograf. Es war so lange her, doch manchmal konnte er die Hand noch sehen, die über den Rand der Bahre herabhing, als wollte er noch einmal winken.
Vielleicht liefen die Gedanken mit den Füßen mit, konnte das sein? Immer schneller mit dem Rhythmus der Schritte. Da drüben war das Hotel, in dem sie gewohnt hatten, weiter weg die Frauen. Unterm Laternenlicht tippelten sie hin und her, als übten sie das Gehen, wo sie doch meistens nur stehen oder liegen mußten, und als er länger hinsah, kam es ihm vor, als ob es dieselben wie früher wären, doch so viel älter geworden und dicker. »Wenn ein Auto hier ganz langsam fährt«, hatte seine Mutter zu ihm gesagt, »dann will es zu den Frauen.« Sie fuhr ihm durchs Haar und meinte, er würde das schon kapieren irgendwann.
Einmal hatte er sie tanzen sehen, in ihrem Haus im Dorf, mit Christian, dem Fotografen. Nur Kerzenlicht brannte, und es lief eine langsame, traurige Musik. Auch die Toten konnten tanzen. Nicole hatte ihm einmal erzählt, daß Leute in Madagaskar ihre Verstorbenen nicht beweinten, sondern ihnen ein großes, buntes Fest spendierten, auf dem sie mit den Toten tanzten. Daran dachte er die ganze Zeit, ans Tanzen, und als er den Taubenschlag betrat, seine Stammkneipe, die in der Nähe seiner Wohnung lag, war ihm auch das Lied wieder eingefallen, das seine Mutter für den toten Fotografen schrieb, ein Lied ohne Worte, dessen Melodie aber so klang wie ein Totenmarsch.
Bloß ein paar Leute waren noch da, das letzte Aufgebot, das immer erst zur Sperrstunde ging. Drei Männer spielten die Bundesliga nach, malten ein vom blinden Schiedsrichter nicht bemerktes Abseits auf Bierdeckel, ein Suffkopp bastelte Bomben fürs Finanzamt, und in einer Ecke sangen zwei Frauen. Eines Tages würde er alles hier ändern, als erstes den Namen. Taubenschlag war kein Name für eine Kneipe, zumal am Tag nicht, wenn nicht viel los war und nur ein paar Hanseln auf der Stange hockten. Nein, er würde die Kneipe Nachtfalter nennen oder Sterntaucher. Er würde alles renovieren und den Tresen genau in die Mitte stellen. Gelbes Licht sollte über schwarzen Ledersesseln brennen und die Menschen schöner machen, weil es einen warmen Glanz in ihre Augen brachte. Wenn die Wirtin sich endlich zur Ruhe setzte, wollte er die Kneipe übernehmen, denn Polizist war doch kein Job für die Ewigkeit, man verdiente nicht viel, hatte bloß Ärger und war Dreck für viele Leute. Für die Wirtin, Billa Hufnagel, war es überhaupt kein richtiger Job, sie hatte ihn einmal Bulle genannt, und heute, da er die Uniform noch trug, schien sie ihn nicht bedienen zu wollen.
Billa sah zu ihm herüber, und trotzdem wirkte es, als gucke sie woanders hin. Nicht daß sie schielte, sie schien nur jeden Tag und jede Nacht zu träumen. Bedächtig schwenkte sie einen löchrigen Spüllappen wie ein entkräfteter Soldat die weiße Fahne, und ihr Gesicht war bleich und aufgeschwemmt, als hätte sie mehr getrunken als die Gäste. Dorian begann mit beiden Fäusten auf den Tresen zu schlagen, nicht laut, doch in einem langsamen, rhythmischen Getrommel, das alle im Raum zu verzaubern schien, weil es der Takt des
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