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Sterntaucher

Sterntaucher

Titel: Sterntaucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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durch, würden sie Schlachtfeste veranstalten. Und du, hatte sie gefragt, was bist du denn als Bulle? Ein Hilfsbeamter der Staatsanwaltschaft, war seine Antwort gewesen, und viel zu schlecht bezahlt. Sie glaubte, daß er alles haßte um ihn herum, und traute sich nicht, ihn direkt danach zu fragen.
    Im Telefonbuch gab es einen Oliver Thiele in der Mailänder Straße. Fein, morgen kriegst du Besuch. Eine Weile noch suchte sie im PC nach Namen und Adressen, gab Kammer in ein Suchprogramm ein, dann Katja und Kemper, schließlich KaKa und K.K. und erhielt die Antwort Not found. E-Mails schien er vernichtet zu haben oder war zu dusselig gewesen, sie zu speichern, es gab auch keine anderen Briefe. Es gab nur Bilder von zerstückelten Körpern und Texte über das Eintreiben von Steuern. Existierten überhaupt Verbindungen zwischen Lippert und den Leuten, die auf dem Video zu sehen waren, oder gehörte er einem anderen Zirkel an? Als sie ins Nebenzimmer ging, fiel ihr die Stille auf, eine Stille, die sie daran erinnerte, was sie die ganze Zeit über unterschwellig gehört hatte, das Einlegen und Auswerfen von Videocassetten, das Vor- und Zurückspulen und der anschließende dumpfe Laut, wenn Kissel ein Band auf den Boden warf. Jetzt war nur das Summen des Recorders zu hören, kein Ton und kein anderes Geräusch. Kissel stand gegen den Schrank gelehnt und hielt die Fernbedienung auf den Bildschirm gerichtet wie eine Waffe.
    »Was ist los?« Ina drehte sich zum Bildschirm und sah dem Jungen ins Gesicht. Dreizehn war er vielleicht oder jünger, und er riß die Arme empor, um sich zu schützen und sich auszusperren aus der Welt. Doch das nützte nichts, weil er vermutlich geprügelt wurde oder weil sonst etwas mit ihm geschah, was man nicht sah. Fremde Hände kamen ins Bild und rissen seine über dem Gesicht gekreuzten Arme weg, aber er wollte sich doch nur schützen, er wollte sich noch nicht einmal wehren. Er weinte. Es war eine Großaufnahme von seinem verzerrten Gesicht.
    »Robin«, flüsterte Ina. »Das ist er doch, oder?« Es war ein Robin mit längerem Haar. Wie viele Robins hatte sie jetzt gesehen? Einen auf dem Friedhof, der ruhig zu ihr hinzusehen schien zwischen diesen Gräbern, und einen auf dem Seziertisch, schmal und bleich, mit geschlossenen Augen. Einen ganz kleinen, lachend in den Armen seiner Mutter. Nur der war glücklich gewesen, nicht? Der ganz kleine. Jener Robin Kammer fiel ihr ein, den andere beschrieben hatten, der schweigsame, unfreundliche Robin, der manchmal prahlen konnte und stänkern. Flüchtige Bekannte hatten das ausgesagt – und sein Bruder? Hatte Dorian ihn überhaupt je beschrieben?
    Mach das aus.
    Er weinte. Wie weh mußte es tun? Es war ein paar Jahre her, aber das vergaß sie ja, denn hier vor ihren Augen wollte er sich schützen und durfte nicht, denn die ließen es ja nicht zu.
    Hör auf damit, schalt aus.
    »Na ja.« Sie schnappte nach Luft und hatte das Gefühl, daß es nicht gelang. »Der Pathologe sagt, er hatte noch ältere Verletzungen. Narben.«
    Kissel warf die Fernbedienung auf den Boden und starrte sie an. Suchte er nach Worten? Nein, Kissel suchte nie. »Fang nicht an zu heulen«, sagte er. »Guck, daß du die Fotze findest.«
     
    Toms Stimme war ein monotones Quengeln, das durch das Rauschen des Wassers drang, und war alles, was sie jetzt hören wollte. Mit geschlossenen Augen überließ sie sich dieser Stimme wie dem heißen Strahl auf ihrem Körper, ja, Süßer, red weiter. Sollte er ihr doch den Kopf volldröhnen mit schlechter Laune und mit Selbstmitleid, ihr durch die Duschkabine hindurch von seinem Hunger erzählen und seiner Langeweile und von der Tragödie, eine Frau zu haben, die nicht beikam – so nannte er das doch immer, nie kommst du bei. All das war besser als Robins Weinen im Kopf, das sie gar nicht gehört hatte, weil auch dieses Video ohne Ton gelaufen war wie das andere, das mit Geli. Aber Gelis stumme Schreie hatte sie ja auch gehört.
    Manchmal schaffte sie es, die Dinge einfach nur zur Kenntnis zu nehmen wie ein Postbeamter eine Briefmarke, auf die er seinen Stempel drückte. Manchmal auch nicht. War doch ein Unding, daß es keinen festen Boden mehr gab und kaum etwas stimmte. Opfer wie Robin konnten den Wunsch nach der Todesstrafe wecken, ein Ansinnen, mit dem man sich entsetzlich blamierte, sprach man im Freundeskreis davon. Schweigen, die Leute glotzten sie an, als hätte sie Pocken, und sagten, das darf ja wohl nicht wahr sein, was ist denn mit dir

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