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Sterntaucher

Sterntaucher

Titel: Sterntaucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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der Nase, das drei Monate in einer gut geheizten Wohnung lag und ein Mensch gewesen ist, wenn du verstehst, was ich meine.
    Sehen, ja. Ist ein beschissenes Gefühl, diese Erwartung, gleich in den Abgrund zu gucken, ja wirklich, in die Hölle. Das sind keine einfach so Gestorbenen, sondern Totgequälte wie Robin, und die haben andere Augen, weißt du das? Ein anderer Blick, in dem Angst und Schmerz für immer eingegraben sind, und vielleicht noch als Skelett, wenn man sie ausgräbt, flackert Horror in den leeren Augenhöhlen wie ein Nachtlicht in einem dunklen Gang. Können Sie das genauer sagen, hatte der Polizeipsychologe sie einmal gefragt, können Sie diese Gefühle erklären? Aber wie machst du das, erklär mal Gefühle, beschreib doch mal Freude oder Liebe oder Angst. Geht nicht so gut. Sie hatte lange vor sich hingestarrt und sich gewundert, wie lange der Mann die Stille aushielt. Hockte da und guckte ihrem Schweigen zu, und um das noch einmal klar zu stellen, sagte er: Wir haben Zeit.
    Ich hab kein Mitleid mit den Toten, hatte sie schließlich gesagt, Mitleid ist es nicht, ich meine, ich werf mich jetzt nicht hin und wünsch mir, der war noch am Leben. Ich hab die Leute ja nie vorher gesehen, also die Leichen. Mir wird auch nicht schlecht oder so, es ist was anderes, so eine Angst davor, was alles möglich ist. Wenn ich mir so einen Zugerichteten angucke, dann krieg ich Horror vor dem Ausmaß – wissen Sie, was ich meine? Wie ruhig wir leben, wenn alles gut geht, und wieviel dabei auf uns wartet, wieviel Grauen, von dem wir nichts wissen.
    Ja, hatte der Polizeipsychologe gesagt, nichts außer einem verhaltenen Ja. War auch eine Möglichkeit, sein Geld zu verdienen.
    Okay, ein bißchen was wußte sie ja seit ihrem Unfall – nein, sag’s genauer, seit dem Anschlag der Verrückten, und manchmal nahm sie diese Ahnung in den toten Augen wahr, das Wissen darum, jetzt gleich zu sterben und den unermeßlichen Wunsch, ganz einfach wegzugehen, sich irgendwohin zu verkriechen, wo es wärmer wird und jemand eine Decke über den zitternden Körper legt – eine Decke, verdammt.
    Okay. Laß mal sehen.
    Langsam drehte sie sich zum Haus und sah zuerst die Beine. Einen Moment lang kam es ihr vor, als sei das auch zum Trocknen aufgehängte Wäsche da oben im dritten Stock, schwer vor Nässe, unbeweglich im Wind. Anzughose, Gürtel, weißes Unterhemd, doch dann, als sie seinen abgeknickten Kopf sah und den Strick um seinen Hals, wurde ein toter Mensch daraus.
    Genickbruch. Wenn alle Stricke reißen, hängst du dich auf.
    Der Strick war um einen Haken am Fenstersims geschlungen, und der Mann hing an der Hauswand wie ein Bergsteiger, der den Halt verloren hat. Wenn es Suizid gewesen war, und genauso sah es aus, war er mit dem Strick um den Hals nach unten gesprungen, ein klassischer Tod durch Erhängen.
    Die Kollegen machten Lärm. Nicole stand mit einem anderen Uniformierten am offenen Fenster, um den Toten nach innen zu ziehen. Es war nur ein kleines Fenster und sie hatten kaum Platz, ihn gemeinsam zu packen, doch versuchten sie es, und ihre herausgepreßten Worte hallten wider in dem engen Hof, paß auf und halt ihn fest und verdammt noch mal, das klappt doch nicht. Der Schatten Kissels war zu sehen, offenbar zerrte er an den beiden, damit sie nicht den Halt verloren und nach vorne kippten. Kissel war nicht schlank genug, um sich auch noch in die schmale Öffnung zu zwängen, und abwechseln konnten sie sich jetzt auch nicht mehr, denn die Schlinge hatte sich vom Haken gelöst. Ina sah vier Hände, die sich in den toten Körper gruben, und hörte Nicole mit ihrer ruhigen Stimme sagen: »Ina? Es kann sein, daß er jetzt runterkommt.«
    Sie starrte nur hin und bewegte sich nicht. Sollte sie ihn auffangen, wurde das jetzt verlangt? Aber der kam aus dem dritten Stock herunter, falls er denn kam, und sie konnte doch einen Toten nicht – sie konnte überhaupt keinen ausgewachsenen Mann – aber durfte sie zulassen, daß er hier auf die Erde fiel? Kein Kollege war hier unten, und nur verschwommen, weil sie Gaffern grundsätzlich keine Aufmerksamkeit schenkte, nahm sie die Köpfe der Nachbarn wahr und hörte ihre Rufe, Jesses, lieber Gott, mir is so schlecht, jetzt batscht der gleich uffs Pflaster.
    Stand sie hier nicht auch herum und gaffte?
    Und was zum Teufel war batschen?
    Warum war die Feuerwehr nicht hier, die hatten Sprungtücher, die machten das doch, die holten auch Katzen aus Bäumen.
    »Geh zurück«, sagte

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