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Sterntaucher

Sterntaucher

Titel: Sterntaucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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er seine Jeans über den Stuhl hängte und sein T-Shirt in den Wäschebehälter warf. Er war so ordentlich, wie man nur sein konnte, wenn man mit sechs Geschwistern in zwei Zimmern aufgewachsen war. Früher hatte er vom Knast geträumt, so wie sie selbst von jener Nacht mit der Verrückten, und wenn sie sich dann aneinanderklammerten, vermochte sie sich vorzustellen, daß sie kleine Helden waren, bösen Träumen trotzend und der ganzen Welt, Königskinder, bereit, in jeden dunklen Wald zu gehen. Jetzt träumte er nicht mehr. Regte er sich auf, dann darüber, daß sie zuviel arbeitete oder den Müll nicht trennte und überhaupt in vielen Dingen ziemlich nachlässig war. Mit erhobener Stimme konnte er aufzählen, was sie alles nicht essen sollte, weil es giftig war, und wenn nicht direkt giftig, dann aber im großen und ganzen ungesund. Er sah gern fern und ging nicht gern aus, und wenn sie stritten, kriegten sie das kaum hin, weil er irgendwann »Du spinnst ja« sagte und sie anlächelte wie ein beseelter Hirte einen beklagenswerten Wurm. Sei nicht so entsetzlich lieb, wollte sie ihn dann anbrüllen, gib mir doch mal einen Grund zu schreien, aber das kam ja auch nicht so gut. Sie hatte Angst davor, daß es nachlassen würde wie bei den Kerlen bisher, als sich lauter große Lieben in Kälte auflösten, in schlechte Laune und das Gefühl, etwas verpaßt zu haben, wenn man den anderen nur sah.
    Seufzend kroch er ins Bett, hantierte umständlich mit der Decke und guckte nach, wie der Wecker stand. Kein Lächeln, nein, er hatte sich geärgert. Dabei war es ein schönes Lächeln, das hinter seinen Augen lag, bevor er das Gesicht zwischen ihren Brüsten vergrub und sie sich seinen Lippen überließ und seinem Atem auf der Haut.
    »Bist du noch sauer?« Sie hielt seine Hand fest, als er nach dem Lichtschalter tastete, küßte ihn auf die Nase, auf die Lippen und streichelte mit den Fingerspitzen seinen Bauch.
    »Nein«, flüsterte er. »Aber müde.«
    »Ach, dann mach doch, was du willst.« Sie rollte sich herum und hörte ein leises Schnauben, als unterdrücke er ein Lachen.
    Die Nacht war schwül und still, eine Stille, die in den Ohren summte, als hätte sie doch ihr eigenes Geräusch. Nur Toms Atem und ein fernes Hundegebell, das herüberhallte wie das Heulen eines gottverlassenen Wolfs. Wo Robin lag, war es wirklich still. Da kam auch keine Wärme hin. Vielleicht lagen sie jetzt im selben gut gekühlten Raum, der Junge und sein Folterer vielleicht. Sein Mörder?
    Leise stand sie auf und drehte den Fernseher zum Fenster, damit sein Licht Tom nicht weckte. Sie setzte Kopfhörer auf und schob das Video in den Recorder, der es mit einem leisen Jaulen verschlang. Sicher, es diente der Ermittlung; sie seufzte und versuchte es zu glauben. Möglicherweise gab es auf dem Band etwas, das ihr entgangen war, ein Haus oder eine Straße, die sie weiterbrachte, oder das Gesicht eines jüngeren Finanzbeamten ohne die blauroten Flecken des Erhängten. Nein, sie hatte doch schon alles gesehen. Sie lehnte sich zurück und starrte die Kammer an, die auf einer Bühne unter Scheinwerfern stand und auf einer Wiese unter Sternen. Ihr Leben schien ein niemals endendes Fest zu sein, und heute war sie vergessen. Kein Mensch applaudierte ihr mehr, doch hatte sie ein kleines Licht entzündet, das weiterbrannte, wenn man sie sah. Bei manchen Liedern klang sie wie Sunny. Ein bestimmter Ton lag dann in ihrer Stimme, den man verstand und nie vergaß, weil er eine Spur aus Lachen und Lust mit sich zog, und manchmal aus Tränen.
    »Es gibt ein Buch über den Prozeß der Zivilisation.« Sie saß auf dem Klavier und baumelte mit den Beinen. »Was wir anständiges Benehmen nennen, ist eigentlich nur Selbstüberwachung, wir spielen Polizei in uns selber. Von klein auf wird der Mensch darauf dressiert, an sich zu halten. Wir tanzen nicht auf der Straße, auch wenn wir es wollen, wir sagen unserem Gegenüber in der U-Bahn nicht, daß wir es schön finden, weil wir uns zusammennehmen. Wo packen wir uns denn hin, wenn wir uns zusammennehmen?«
    Ina schüttelte den Kopf, das hatte sie nie so gesehen, dafür kannte sie sich mit anderen Dingen aus, nimm bloß mal den Tod. Sie streckte einen Finger aus, als ziele sie der anderen ins Gesicht – vier Stunden nach Robins Tod war sein Körper abgekühlt. Das hast du wohl nicht mitgekriegt, falls du dabei gewesen bist, doch die Totenflecke könntest du gesehen haben, die sich schon nach einer halben Stunde bilden, was

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