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Sterntaucher

Sterntaucher

Titel: Sterntaucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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Städtchen im Umkreis, aus denen London wurde und L. A., sobald Sunny auf der Bühne stand. Aber sie hatte sie auf keinem Damenklo je wiedergesehen, und noch Jahre später geisterte Sunny-Sigrid, deren Nachnamen sie nie erfahren hatte, ab und zu durch ihre Träume wie ein Fabelwesen mit einer Laterne in der Hand, das in einem schwarzen Tunnel steht und flüstert: Hier geht’s raus, schau her, hier ist das Licht.
    Sunny hatte manchmal am Synthesizer gesessen wie die Kammer am Klavier, traumverloren, unerreichbar für einen Moment. Aber Katja Kammer hatte es nie bis Nieder-Weisel geschafft, und Ina Henkel wollte noch immer zum Herz der Welt, dann und wann zumindest, wenn sie ihr Leben dahinschwimmen sah wie ein Paddelboot auf einem windstillen See.
    Vielleicht hätte sie die Kammer noch viel mehr angestaunt, denn die hatte verdammt noch mal Stil, wie sie da auf der Bühne stand und mit einer Handbewegung die Band zum Verstummen brachte – aus. Sie guckte ins Publikum, lächelte leicht, belauschte die Stille. Dann nahm sie ein Buch vom Klavier und begann mit ruhiger Stimme vorzulesen:
    Das Lied will Licht sein.
    Das Lied hat im Dunkel
    schimmernde Fäden
    wie Phosphor und Mond.
    Dann schloß sie die Augen und murmelte ins Mikrofon: »Lorca.«
    Interessant. Ina rollte Sunnys Lippenstift zwischen den Handflächen hin und her; Lorca, nie gehört. Klang aber gut, schimmernde Fäden wie Phosphor und Mond. Mußte man erst mal drauf kommen. Sie beschäftigte sich viel zu wenig mit diesen Dingen, müßte mehr lesen, nicht nur Berichte über Tatortspuren und Wunden, die zum Tode führten.
    Hast du Sunny gekannt? murmelte sie zum Fernseher hin, könnte doch sein. Wahrscheinlich seid ihr sogar im selben Alter.
    Der Duft im Raum – sie legte den Kopf zurück – Moos und Beeren. Nein, kein Scheiß, sie konnte es riechen. Es war der Duft des kleinen Feldweges, den die Kammer gesucht und nie gefunden hatte, weil es nur nach Hölle roch an jenem Ort, an dem sie angekommen war.
    Du dämliche Kuh. Was hast du getan?
    »Mein Zahnarzt«, sagte die Kammer fröhlich, »hat mir mal erzählt, daß Leute nachts mit den Zähnen knirschen, wenn sie sie am Tag nur zusammenbeißen.« Sie redete wieder mit dem Journalisten und hielt eine Coladose in der Hand. »Sie schließen Kompromisse mit sich selbst, hassen ihren Job und warten auf die Rente, aber was soll kommen? Ich will nicht mit sechzig daran denken, was ich alles hätte machen können und den ganzen Jahren hinterhertrauern, die verloren sind – oh Scheiße, ich predige ja.« Sie lachte wie ein Kind und sagte dann so bestimmt, als sei es das einzige, woran sie wirklich glaubte: »Ich möchte am Ende meines Lebens nicht sagen müssen, daß alle Jahre gleich gewesen sind.«
    »Wer ist das?« fragte Tom hinter ihr, und Ina fuhr herum, als hätte er sie bei etwas ertappt.
    »Irgend ’ne Musikerin«, murmelte sie und schob Sunnys Lippenstift in die Jeanstasche. »Gefällt sie dir?«
    »Mmh. Kommt mir bißchen eingebildet vor. So wie du damals. Auf dem Präsidium, beim Verhör.«
    »Ich? Na hör mal, ich denke, du hast dich sofort verknallt.«
    »Ja, aber du hast dich so vor mich hingesetzt, auf die Tischkante, und mich von oben angeguckt, das war schon eingebildet.«
    »Blödsinn, ich hab dich ganz normal befragt.« Sie kicherte. »So gut ich’s konnte in der Situation.« Als sie ausschaltete, dachte sie einen Moment daran, wie es wäre, die Katja Kammer zu kennen, die sie da gerade gesehen hatte. Nicht die Frau an der Wand – diese hier, und sie würde mehr Worte zustande bringen als bei Sunny damals, viel mehr sagen können als »Butzbach, Apotheke« oder sonst einen hervorgestotterten Mist. Ja, aus der Provinz war sie herausgekommen, doch was hatte sich groß geändert? Das schönere, wildere Leben war auch jetzt noch weit weg. Noch immer hatte sie Kissels Stimme im Ohr, Ina, Süße, kriegen wir unsere rebellischen fünf Minuten? Der Kammer, dieser hier, hätte er so etwas wohl nicht gesagt. Manchmal glaubte sie, daß die Beziehung mit Tom, einem Vorbestraften, die sie zur größten Empörung ihres Kollegen Stocker begonnen hatte, das bisher Mutigste in ihrem Leben war.
    »Ich helf dir beim Kochen«, sagte sie.
    »Na, das war jetzt aber schlau von dir, Essen ist nämlich fertig.«
    »Ja?« Sie umarmte ihn, biß ihn ins Ohr und wollte ihn fragen, ob sie nachts mit den Zähnen knirschte, aber wenn das so wäre, hätte er es ihr wohl längst gesagt.
     
    Tötete sie den eigenen Sohn,

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