Sterntaucher
Kind lachte, während das Bild zu hüpfen begann. »Komm her, Dori«, sagte sie leise, »die ist doch viel zu schwer.«
» Viel zu schwer«, äffte Ina sie nach. Sie zog alte Jeans und ein T-Shirt an, hängte ihren Rock in den Schrank und prüfte die Orchideen auf dem Fensterbrett. Im Hintergrund fing die Kammer an, von der Liebe zu singen, von was denn sonst? Alle sangen sie von der Liebe und den anderen Gefühlen, die man im Leben am heftigsten spürte, sangen von Freude, Schmerz und der Hoffnung auf Glück. Ina drehte sich um.
Menschen tanzten, während die Kammer so ruhig am Klavier stand, als sei sie auf einer anderen Party. Zwei Gitarren begleiteten sie, ein Schlagzeug und ein Saxophon, und je wilder die Meute tanzte, desto unbeteiligter schien sie selbst zu sein. Nur manchmal lächelte sie leicht, doch lag kein Stolz in diesem Lächeln, eher sanfter Spott. Wieder kam sie Ina sehr groß vor, so als überrage sie alle, was ja nicht stimmte. Nein, es war doch alles normal mit ihr, bis auf die Haarfarbe wohl, das war kein echtes Schwarz. »Ihr müßt doch mal verschnaufen«, sagte sie ins Mikrofon, und die Menge schrie etwas, das sich wie Protest anhörte. Sie lachte da oben, ein leises Lachen, bevor die Musik wieder schneller wurde und sie das Klavierspielen sein ließ, um am Bühnenrand zu tanzen, als hätte sie jetzt gerade Lust dazu, als würde sie immer nur tun, was sie wollte.
»Ich werd dich fragen«, murmelte Ina. »Du wirst mir sagen, was du getan hast.« Ziellos ging sie im Zimmer umher. »Glaub doch bloß nicht –«
»Glück«, sagte die Kammer. In der jetzt leeren Halle saß sie neben einem Mann, der ihr ein Mikrofon entgegenhielt und wissen wollte: »Was ist Ihr Ziel?« In ihren Augen lag der gleiche freundliche Spott, mit dem sie auch ihr Publikum bedacht hatte. »Ich will Glück sammeln, will das nicht jeder? Glück besteht ja nur aus Momenten, aber ich will so viele wie möglich davon. Ich will nicht blind durchs Leben laufen, ich will alles sehen können, alles hören, alles fühlen. Und ich möchte einmal Mozart spielen können.«
» Mozart? «fragte der Journalist, was so klang, als hätte er sich verschluckt.
Einen Moment lang sah sie ihn an, still und sanft wie eine junge Krankenschwester, dann prustete sie los. »Sie glauben, ich müßte auf der Bühne etwas Besoffenes grölen, nur weil ich unter Leuten aufgewachsen bin, die sich halb totgesoffen haben? Na ja, Sie sind Feuilletonist, den Dreck der Straße finden Sie vielleicht spannend, aber sollten Sie sich im richtigen Leben einmal dahin verirren, kriegen Sie doch Ausschlag. Nein, ich mag Mozart, Punkt.« Noch einmal lächelte sie ihn an – Schnitt – und stand wieder auf der Bühne, wo sie über dem Publikum zu schweben schien wie Sunny.
»Sunny«, murmelte Ina. »Meine Güte.« Schon im Präsidium, als sie dieses Band zum ersten Mal sah, hatte sie das merkwürdige Gefühl, die Kammer zu kennen, obwohl sie wußte, daß es nicht so war. Und wieder, wie im Präsidium, schien sich ein bestimmter Duft im Raum auszubreiten, White Linen. Ewig her und trotzdem unvergänglich; das Parfüm, der Lippenstift, Sunny.
Ja, ein halbes Leben war das her; Ina war fünfzehn, ein Teenie aus der Provinz, Sunny war viel älter und die Sängerin einer Rockband aus Berlin. Ina lebte in einem Ort, der auf Postkarten seine Kirche präsentierte und dessen Namen man nur hervornuschelte, wurde man gefragt, woher man kam: Nieder-Weisel. Wetterau, Oberhessen, setzte man resigniert hinzu und vergaß auch nie, den Satz korrekt zu beenden: Aber später zieh ich nach Frankfurt oder nach München oder am besten nach Berlin. Sunny hieß Sigrid, und ihre Band hieß Heartbeat, und als sie eines Abends über Nieder-Weisel kam, war das so, als zeigte sie in einem kleinen, dunklen Keller den Weg hinaus ans Licht.
Ohne hinzusehen, tastete Ina zwischen den Orchideentöpfen herum, bis sie den Lippenstift fand, dessen Hülle halb zerbrochen war. Natürlich hatte sie Sunnys Konzert besucht, weil man froh über jeden Abend war, an dem sich was tat. Sie träumte viel. Sie hatte Bilder von Rockstars an den Wänden und folgte ihnen ins Herz der Welt, ohne zu wissen, wo das war und welche Sprache man da sprach. Als sie Sunny sah, glaubte sie, daß es möglich war und man reisen konnte, wenn man nur wollte. Sunny war kein großer Star, das nicht, Ina hatte sie vorher gar nicht gekannt. Doch schien sie wie sie selbst zu sein, viel mutiger nur und zäher, denn sie schien ja auf
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