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Sternwanderer

Titel: Sternwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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trockenen Kanten Brot aus seiner Tasche, befeuchtete ihn im Bach und teilte ihn in zwei Teile.
    Die Sternfrau inspizierte das Brot angeekelt, machte aber keine Anstalten, es in den Mund zu stecken.
    »Du wirst verhungern«, warnte Tristran.
    Sie antwortete nicht und reckte trotzig das Kinn vor.
    Sie gingen weiter durch den Wald, kamen aber nur sehr langsam voran. Mühsam stiegen sie einen schmalen Pfad am Hang eines Hügels empor, mußten über umgestürzte Bäume klettern, und schließlich wurde der Weg so steil, daß die stolpernde Sternfrau und ihr Begleiter abzurutschen drohten. »Gibt es denn keinen einfacheren Weg?« fragte die junge Frau. »Irgendeine Straße oder eine gerodete Fläche?«
    Sobald die Frage gestellt war, wußte Tristran die Antwort. »Eine halbe Meile in diese Richtung gibt es eine Straße und da drüben, hinter dem Dickicht, liegt eine Lichtung«, erklärte er und deutete in die entsprechenden Richtungen.
    »Das wußtest du?«
    »Ja. Nein. Na ja, ich wußte es, als du mich danach gefragt hast.«
    »Dann laß uns zu der Lichtung gehen«, sagte sie, und die beiden schlugen sich so gut es ging durchs dichte Unterholz. Dennoch brauchten sie beinahe eine Stunde, bis sie die Lichtung erreichten, aber dort war der Untergrund wenigstens eben und flach wie ein Sportfeld. Allem Anschein nach war der Wald hier aus einem bestimmten Grund gerodet worden, auch wenn Tristran sich einen solchen nicht vorstellen konnte.
    Mitten auf der Lichtung, ein Stück von ihnen entfernt, lag auf dem Gras eine kunstvoll gearbeitete goldene Krone, die in der Nachmittagssonne glitzerte. Sie war mit roten und blauen Steinen verziert: Rubine und Saphire, dachte Tristran. Gerade wollte er sich ihm nähern, da legte das Sternmädchen ihm die Hand auf den Arm und sagte: »Warte. Hörst du die Trommeln?«
    Auf einmal nahm er das Geräusch wahr, ein leises, dumpfes Grollen aus allen Richtungen um sie herum, nah und fern, in den Hügeln widerhallend. Aus dem Wald auf der anderen Seite der Lichtung erscholl ein lautes Krachen und ein hoher, wortloser Schrei. Dann erschien ein riesiges weißes Pferd; seine Flanken waren voller Wunden und blutüberströmt. Es galoppierte mitten auf die Lichtung, drehte sich dort um, senkte den Kopf und bot seinem Verfolger die Stirn – der jetzt auf die Lichtung stürzte, mit einem Knurren, das Tristran eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Es war ein Löwe, aber das Tier ähnelte kaum dem Löwen, den Tristran bei einem Jahrmarkt im Nachbardorf gesehen hatte und der ein räudiges, zahnloses, verschnupftes Tier gewesen war. Dieser Löwe war riesig, sein Fell hatte die Farbe von dunklem Sand. Mit einem Satz war der Löwe auf der Lichtung und fauchte das weiße Pferd an.
    Das Pferd war außer sich vor Angst. In seiner Mähne mischte sich Schweiß mit Blut, die Augen blickten gehetzt in die Runde. Außerdem entdeckte Tristran ein langes, elfenbeinernes Horn in der Mitte seiner Stirn. Wiehernd und schnaubend bäumte es sich auf und erwischte den Löwen mit einer seiner scharfen, unbeschlagenen Hufe an der Schulter. Das Raubtier jaulte auf wie eine Katze, die sich verbrannt hat, und machte einen Satz nach hinten. Wachsam und in sicherer Entfernung umkreiste der Löwe das Einhorn, die goldenen Augen unablässig auf das scharfe Horn gerichtet, das stets in seine Richtung wies.
    »Geh dazwischen«, flüsterte das Sternmädchen. »Sonst töten sie einander.«
    Der Löwe knurrte das Einhorn an, was sich zuerst nur wie ein unheilverkündendes Brummen eines fernen Donners anhörte, sich dann aber zu einem ohrenbetäubenden Brüllen steigerte und die Felsen des Tals und den Himmel erschütterte. Dann setzte der Löwe zum Sprung an, und das Einhorn brach unter der Wucht des Angriffs zusammen; ein Wirbel von Gold und Silber und Rot erfüllte die Lichtung, und plötzlich war der Löwe auf dem Rücken des Einhorns, die Klauen in dessen Flanken gekrallt, das Maul eng an seinem Hals, während das Einhorn laute Klagelaute ausstieß und sich heftig aufbäumte, um das Raubtier abzuwerfen. Vergeblich schlug es mit den Hufen nach seinem Peiniger und versuchte sein Horn auf ihn zu richten.
    »Bitte, tu doch etwas. Der Löwe wird es umbringen«, flehte das Mädchen immer dringlicher.
    Tristran hätte ihm erklären können, daß er, wenn er sich der wütenden Bestie näherte, im Handumdrehen aufgespießt, getreten, zerfetzt und aufgefressen werden würde; weiterhin hätte er argumentieren können, daß er, selbst wenn er wie

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