Sternwanderer
der Stange festgebunden und konnte nicht wegfliegen.
»Ehe du was sagst«, meinte die grauhaarige Frau, »sollte ich dir mitteilen, daß ich bloß eine arme alte Blumenverkäuferin bin, eine harmlose alte Vettel, die noch nie jemandem was getan hat, und daß der Anblick einer so prächtigen und ehrfurchtgebietenden Lady wie dir mich mit Respekt und Furcht erfüllt.«
»Ich werde dir nichts zuleide tun«, entgegnete die Hexenkönigin.
Die Alte kniff die Augen zusammen und musterte die Dame im roten Gewand vom Scheitel bis zur Sohle. »Das sagst du so«, meinte sie. »Aber woher soll ich wissen, daß es wirklich so ist, ein liebes naives Dummchen wie ich, das vor Furcht zittert wie Espenlaub? Womöglich planst du, mich in der Nacht auszurauben oder noch was Schlimmeres.« Sie stocherte mit einem Stock im Feuer, daß die Flammen hoch aufloderten. Der Geruch des bratenden Fleischs hing in der stillen Abendluft.
»Ich schwöre«, begann die Dame im roten Gewand, »bei den Regeln und Vorschriften der Schwesternschaft, zu der du und ich gehören, bei der Macht der Lilim und bei meinen Lippen, meinen Brüsten und meiner Jungfräulichkeit, daß ich dir nichts Böses will und dich behandeln werde, als wärst du mein eigener Gast.«
»Das genügt mir, Schnuckelchen«, erwiderte die alte Frau, und auf ihrem Gesicht erschien ein breites Lächeln. »Komm her und setz dich. Das Abendessen ist gleich fertig, schneller als ein Lamm zweimal mit dem Schwanz wackelt.«
»Aber gern«, sagte die Dame im roten Gewand.
Die Ziegen schnupperten und zupften am Gras und an den Blättern neben dem Wagen, wobei sie die angebundenen Maultiere, die den Zigeunerwagen zogen, argwöhnisch betrachteten. »Feine Ziegen«, meinte die Alte. Die Hexenkönigin neigte den Kopf und lächelte bescheiden, während der Feuerschein auf der kleinen scharlachroten Schlange schimmerte, die sich als Armband um ihr Handgelenk schlang.
»Nun, meine Liebe«, fuhr die Alte fort, »meine Augen sind leider nicht mehr das, was sie mal waren, aber gehe ich recht in der Annahme, daß einer der beiden feinen Gesellen das Leben auf zwei Beinen begonnen hat, nicht auf vier?«
»So etwas hat man schon gehört«, räumte die Hexenkönigin ein. »Beispielsweise auch über den wunderschönen Vogel, den du da bei dir sitzen hast.«
»Dieser Vogel hat eines meiner besten Stücke weggegeben, hat es vor fast zwanzig Jahren an einen Taugenichts verhökert. Und was die kleine Schlampe mir danach noch für Ärger gemacht hat, kann man sich kaum vorstellen. Deshalb bleibt sie dieser Tage ein Vogel, es sei denn, sie hat Arbeit zu erledigen oder ich brauche sie am Blumenstand. Wenn ich einen guten starken Sklaven finden könnte, der keine Angst vor ein bißchen harter Arbeit hat, na, dann würde sie für immer ein Vogel bleiben.«
Der Vogel piepste traurig auf seiner Stange.
»Man nennt mich Madame Semele«, erklärte die Alte.
Man hat dich Straßengraben-Sal genannt, als du noch ein junges Würstchen warst, dachte die Hexenkönigin, aber sie sagte es nicht laut. »Mich kannst du Morwanneg nennen«, verkündete sie statt dessen. Was, überlegte sie, eigentlich ein Witz war, denn Morwanneg bedeutet Meereswoge, und ihr wahrer Name war vor langer Zeit unwiederbringlich vom kalten Ozean verschlungen worden.
Madame Semele stand auf, ging ins Innere des Wagens und kam mit zwei bemalten Holzschalen wieder zum Vorschein; außerdem brachte sie zwei Messer mit Holzgriff und einen kleinen Topf mit Kräutern, getrocknet und zu einem grünen Pulver zerstoßen. »Eigentlich wollte ich mit den Fingern von einem Teller aus frischen Blättern essen«, sagte sie und reichte der Frau im scharlachroten Kleid eine der Schalen, auf die unter einer Staubschicht eine gemalte Sonnenblume zu erkennen war. »Aber ich dachte, na ja, wie oft hab’ ich schon solch feinen Besuch? Da ist das Beste gerade gut genug. Kopf oder Hinterteil?«
»Entscheide du«, antwortete der feine Besuch.
»Dann bekommst du den Kopf, mit den leckeren Augen und dem köstlichen Gehirn und den knusprigkrossen Ohren. Und ich nehme den Rumpf, an dem es weiter nichts zu knabbern gibt als langweiliges fasriges Fleisch.« Während sie sprach, hob sie den Spieß vom Feuer, zerlegte den Braten mit den beiden Messern, die sie so flink handhabte, daß man nur funkelnde Klingen wahrnahm, schnitt das Fleisch von den Knochen und verteilte es ziemlich gleichmäßig auf die beiden Schalen. Dann reichte sie ihrem Gast den Kräutertopf. »Leider
Weitere Kostenlose Bücher