Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
werfen!«
»Oberstaatsanwalt Schwarck meint, das sei nicht einfach.«
»Dieses Riesenrindvieh! Alles muß man selbst machen.« Er hob wieder die Pistole und zielte erneut auf Lamartine. »Schließ
die Augen, Franzmann!«
»Eine Sekunde, Herr Minister!« protestierte der Radfahrer.
»Was noch?« brüllte Simons. »Siehst du nicht, daß ich mitten in einem Duell bin?«
»Darum geht’s. Oberstaatsanwalt Schwarck meinte, in der momentanen Situation ... in dieser schwierigen Situation sollte man Stieber keine Handhabe bieten!«
»Handhabe?«
»Er könnte den toten Franzosen in der Presse ausschlachten. Gegen Sie, Herr Justizminister! Schließlich ist der Kerl Polizist!«
»Stieber wird ins tiefste Loch geschmissen, wenn er nur einen Piepser tut.«
»Graf Bismarck ... der Kanzler«, stotterte der uniformierte Bote, »... er hat eine Order an den Gefängnisdirektor unterschrieben. Stieber ist sofort freizulassen. Ohne Rückfrage bei der Justiz.«
Simons schwieg und bebte. Sein ganzer Körper drehte sich steif nach rechts. Er gab einen Schuß ab. Königin Luise verlor den
spitzen Teil ihres nackten Ellenbogens.
»Sofort aufsitzen!« befahl Simons und sprang in die Kutsche. Die Sekundanten folgten ihm. Die Tür wurde zugeschlagen, der
Kutscher trieb die Pferde mit der Peitsche an. Beim Überqueren der Brücke schlug eine Seite der Karosse gegen dasschmiedeeiserne Geländer, und der Velozipedist, der nur wenige Meter hinter der Kutsche fuhr, fiel vor Schreck hin. Wieder
ertönte das Glöckchen, und Lamartine bemerkte erst jetzt, daß es sich um die Klingel des Fahrradfahrers handelte.
Lamartine ging los.
Er kam etwa fünf Meter weit, dann strauchelte er und fiel in die Blumenrabatten.
Lamartine rollte auf den Rücken, über ihm war der klare Sternenhimmel.
»Ich lebe!« flüsterte er. »Ich lebe. Der Radfahrer hat mir das Leben gerettet.«
Er lernte langsam wieder zu atmen. Dann bewegte er die Hände: erst die rechte, dann die linke.
Er gönnte sich eine Pause. Erst danach bewegte er nacheinander seine Füße.
Wie lange es dauerte, bis er wieder auf die Beine kam, wußte Lamartine selbst nicht genau.
Seine Kleider waren feucht vom Nachttau.
Lamartine brauchte etwa eine halbe Stunde für den Fußweg zur Wohnung der Wilkes.
Er klingelte, niemand öffnete.
Lamartine klopfte. Es tat sich immer noch nichts. Er verließ das Haus wieder. Als er den Kohlenladen der Witwe passierte,
sah er durch eine Ritze des geschlossenen Rolladens Licht. Er blieb stehen und klopfte gegen den Rolladen. Dann bückte er
sich, griff unter die Metalleiste und hob den Laden an. Lamartine mußte zweimal ansetzen, dann überwand er den Widerstand
der an einem Haken fixierten Kette. Er schob den Laden bis zur Hüfte hoch. Die Ladentür stand offen.
Lamartine schlüpfte hinein. Die Alte lag schnarchend in dem Bett, das tagsüber hinter einem Vorhang verborgen war.
Er betrat den dunklen Flur. Es war kalt in der Wohnung. Die Wasserpumpe tropfte. Etwas stimmte nicht. Lamartine klopftean der Tür von Mias Zimmer. Ohne auf eine Antwort zu warten, trat er ein. Die Petroleumlampe warf ein warmes gelbliches Licht
auf die Tapete mit den Wasserflecken.
Mia lag nackt auf ihrem Bett – so als hätte sie Lamartine erwartet. Ihre Augen waren weit aufgerissen, in der linken Brust
war ein münzgroßes Loch, das stark geblutet hatte.
Lamarine setzte sich zu ihr, er nahm ihre Hand und streichelte sie. Sie fühlte sich warm an. So als würde Mia noch leben.
Nach einer Weile deckte er das Federbett über Mia.
Das Zimmer war durchwühlt worden: Kleider, alte Taschen, Unterwäsche und herausgerissene Schubladen lagen auf dem Boden. Lamartine
schaute in den Verschlag, in dem er übernachtet hatte. Auch dort hatte Mias Mörder nach etwas gesucht.
Er deckte Mia wieder auf. Lamartine hatte schon viele Frauenleichen gesehen, er wußte, woran man erkannte, was ihnen angetan
worden war. Doch Mia wies keine Spuren einer Vergewaltigung auf: Ihre Scham war nicht gerötet, sie blutete nicht, es gab keinen
Spermaausfluß.
Ihr Körper kühlte ab. Lamartine beugte sich über sie und küßte sie auf den Mund. Dann deckte er sie wieder zu. Er ging ins
Zimmer der Witwe und sprach die Schlafende laut an. Sie reagierte nicht. Daraufhin schüttelte Lamartine die Alte, und sie
kam langsam zu sich. Er erklärte ihr, Mia liege tot im Nebenzimmer.
Die Witwe Wilke erhob sich ächzend aus dem Bett und lief barfuß über den mit
Weitere Kostenlose Bücher