Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
mit hochgestellten Besuchern eine gewisse Bildung
erlangt haben. Sie können Verse von Vergil und Horaz aufsagen. Sie verfügten oft über ein ganzes Register juristischer und
militärischer Begriffe. Von ihren Besuchern erfahren sie ungewollt private und öffentliche Geheimnisse. Ich fand unter ihnen
geradezu prädestinierte Spioninnen.«
»Das hätte ich mir fast denken können«, sagte Lamartine.
»Die größte Gefährdung liegt einfach darin, daß beinahe alle durch Krankheit an der Ausübung ihres Gewerbes verhinderten Dirnen
kriminell werden ...kriminell werden müssen ...« Lamartine konnte es nicht glauben: Kaum war Stieber aus dem Gefängnis raus, renommierte er schon wieder. Er spazierte
durch das Bordellzimmer wie durch einen Seminarraum. Und munter dozierte er: »Ich sammelte systematisch alles Wissen über
diesen Bereich. Ich habe erkannt, daß man den Sittenproblemen einer Hauptstadt nicht mit Polizeigewalt beikommen kann. Unter
einem Pseudonym habe ich meine Erkenntnissesogar veröffentlicht, Lamartine. An König Wilhelm IV. habe ich eine Eingabe gerichtet und empfohlen, die herrschende Polizeiaufsicht
über das Dirnenwesen aufzulösen und statt dessen eine ›Dirnen-Heilungscassa‹ einzurichten. Der Eingabe wurde entsprochen.
Die Frauen zahlten einen Teil ihrer Verdienste in diese Kasse ein und wurden dafür im Krankheitsfall unterstützt. Die Einrichtung
hatte quasi über Nacht Folgen. Die Dirnen wurden im Krankheitsfall einfach nicht mehr kriminell. Und durch die Meldepflicht
bekam die Gesundheitsbehörde die venerischen Krankheiten in den Griff. Sogar der Mißbrauch Minderjähriger in geheimen Bordellen
wurde eingedämmt, weil die Bordelle, um in den Genuß der Kasse zu kommen, nicht mehr im Dunkeln geführt werden konnten. Zum
Dank bekamen ich und meine Beamten Informationen aus dem Dirnenmilieu ...«
»Sie haben wirklich die Prostituierten zu Spitzeln gemacht?« entfuhr es Lamartine.
Stieber antwortete mit unverhohlenem Stolz: »Fast alle Berliner Dirnen arbeiten für mich, sie berichten fleißig. Ich habe
dafür gesorgt, daß die Dirnen bei der Berliner Polizei den gleichen Schutz genießen wie jeder andere Bürger auch. Vielleicht
verstehen Sie jetzt, lieber Lamartine, wieso ich hier bin ...«
Lamartine trank seinen Sekt in einem Zug leer, dann wandte er sich an Stieber: »Lösen Sie das ein, was Sie versprochen haben
– und Sie bekommen Ihr Dossier!«
»Und wenn nicht?« fragte Stieber.
»Dann werde ich das Dossier vernichten.«
Stieber erstarrte. Es dauerte eine Weile, bis er seine Runde durch das Zimmer fortsetzte. »Hören Sie, Kollege, ich hätte eine
andere Verwendung für Sie. Ich werde nicht mehr in den Polizeidienst zurückkehren.« Das überraschte Lamartine allerdings.
»Ich führe seit einiger Zeit eine besondere Einrichtung: das erste Central-Nachrichten-Büro in Berlin. Wollen Sie nicht als
mein Stellvertreter einsteigen?«
»Ich bin kein Journalist, Herr Stieber, ich bin Kriminalist.«
»Und ein guter, Lamartine. Deshalb will ich Sie ja auch dabeihaben. Lassen Sie sich durch die offizielle Bezeichnung meiner
Tätigkeit nicht beirren! Denken Sie doch einfach an das, was ich Ihnen eben von der Dirnen-Heilungscassa erzählt habe. Nach
diesem Prinzip werden in wenigen Jahren alle Geheimdienste arbeiten. In Rußland zeichnet sich der nächste Krieg ab, der Zar
will sich der Slawen erwehren. Wenn er das erfolgreich und ohne große Verluste tun will, muß er auf den Krieg vorbereitet
sein. Er braucht die Unterstützung eines großflächig arbeitenden Geheimdienstes. Der Saboteur, der sich mit einer Sprengladung
um den Bauch gebunden hinter die feindlichen Linien schleicht, um dort eine Gulaschkanone in die Luft zu sprengen – das ist
was für unser Stadttheater. In der Wirklichkeit werden die zukünftigen Kriege in Hinterzimmern entschieden. An geheimen Karten,
in die emsige Kriminalisten Unmengen von Nachrichten eintragen. Aus allen Ecken und Enden eines Landes kommen Spitzelberichte
zusammen. Sie werden überprüft, mit anderen Berichten verglichen, damit sich keine Desinformation einschleichen kann, und
in diese Karten-Maschinerie eingegeben. Diese – sagen wir: statistische – Arbeitsweise merzt den individuellen Faktor aus.
Die Masse der Informanten trägt das Mosaik einer Gesamtlage zusammen. Fehler gibt’s so gut wie nicht mehr. Nach dieser Gesamtlage
können sich die Militärs verhalten. Es
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